MALTE WOYDT SITEMAP   EMAIL: info@woydt.be  

HOME   LEKTÜRE:   MEINE PUBLIKATIONEN:   BUCHBESPRECHUNG SCHÜMER 1997

Malte Woydt:
Die Kinderfänger?
Ein deutsches Buch über Dutroux und Co.

...... Dirk Schümer packt einen gleich auf der ersten Seite, und läßt einen lange nicht mehr los. "Die Kinderfänger" ist das (bislang?) einzige Buch auf Deutsch über die Dutroux-Affäre, und spannend geschrieben. Der Untertitel verspricht ein "belgisches Drama von Europäischen Dimensionen". Um es gleich vorwegzunehmen: Das mit dem europäisch hätten sie sich sparen können, wird nirgendwo schlüssig erarbeitet. Aber zurück zu Belgien.
...... Der Autor hat im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre als Reporter häufig dieses Land besucht. Er gibt Annäherungen an die Dutroux-Affäre in 12 Kapiteln. Zwölfmal einen anderen Blickwinkel auf dieselbe Sache. Er setzt die aktuelle Affäre samt der gesellschaftlichen Reaktionen in Zusammenhang mit früheren Affären, mit dem weltweiten Kinderhandel, schildert den Kompetenzwettkampf innerhalb der Justiz, dasselbe von der Polizei... In vieler Hinsicht ein äußerst informatives Buch. Gerade die weiter ausholenden Teile geben Belgienneulingen tiefere Einblicke in Land und Leute als es jedes andere Belgien-Buch derzeit auf dem deutschen Markt vermag.
...... Leider verfängt sich der Autor allerdings etwas allzu häufig in handfesten Vorurteilen. Es ist schon ärgerlich, ständig davon zu lesen, die weißen Märsche setzten sich von "normalen" Demonstrationen insofern stark ab, als sie nicht in erster Linie Randale zum Inhalt hätten. Hier betet jemand die Propaganda seiner Zeitung (der FAZ) nach, die angesichts von 2% gewalttätigen Demonstrationen (in Deutschland) einfach lächerlich ist.
...... Außerdem nimmt er in der innerbelgischen Auseinandersetzung unterschwellig einen flämisch-nationalistischen Standpunkt ein, ohne dies offen darzulegen. Für ihn ist klar, daß "die Frankophonen" sich auf einer systematischen Landnahme befinden, mit dem Ziel den Flamen soviel Land wie möglich unter dem Boden wegzureißen. Flämisch ist für ihn die "eigentliche" Sprache Brüssels, die sich unter (illegitimem) Beschuß der Frankophonie befindet. Meines Wissens ist es schlicht falsch, wenn er z.B. behauptet, es gäbe reihenweise frankophone Gymnasien in Flandern.
...... In vielen z.B. historischen Details werden unhaltbare Positionen geäußert, die Belgische Verfassung von 1830 wird als besonders undemokratisch dargestellt, was sie natürlich im Vergleich mit heutigen ist, nichtsdestotrotz war sie für fast 90 Jahre einsames Vorbild für alle Demokraten in Europa. Land und Begriff Belgien wurden 1830 nicht künstlich aus der Antike hervorgekramt, auch im 18. Jahrhundert hatte es schon "belgische" Bewegungen gegeben. Der Vlaams Blok hat keine regelmäßigen Stimmanteile von 20%, nur in ausgewählten Hochburgen, und die Front National schon garnicht.
...... Witzig angesichts seiner "flamiganten" Neigungen, daß ausgerechnet die Föderalisierung "seit 1993" als Ursprung des belgischen "Kompromiß-  und Proporzwesens" herhalten muß. Wenn das erst vier Jahre alt wäre, gäbe es wohl weniger Probleme... In der Beschreibung liegt die Stärke des Buches. Die Erklärungen fallen davon merklich ab. Schümer wirft mit Märchenmetaphern nur so um sich, verschiebt die ganze Affäre gar streckenweise ins Mystische. Wieso sollte es dem Minister di Rupo bitte "vom Schicksal vorherbestimmt" sein, der auf Dutroux folgenden juristischen "Überaktivität" zu werden? Welche Rolle soll hier das Schicksal spielen? Wodurch begründet sich die Vorherbestimmtheit? Gelegentliche Ausflüge in die Völker-Psychoanalyse sind ebenfalls eher peinlich.
...... Die Weißen Märsche werden zum ewigen Guten hochstilisiert, die Teilnehmer "hatten nie in ihrem Leben etwas Ungesetzliches getan, vorbildliche Staatsbürger allesamt", Dutroux und Co. zu "moralisch losgelösten Individuen". Sind die Probleme nicht vielmehr struktureller Art? Die belgische Debatte drehte sich viel stärker um die Frage, ob nicht bestimmte Verhaltensweisen und Gewohnheiten der ganzen belgischen Gesellschaft Schuld sein könnten. Im weiteren notiert er begeistert, daß hier junge Menschen nach Autorität schrieen, die Grenzen der Liberalisierung seien erreicht. Wiederum eine kritiklose Übernahme gängier FAZ-Thesen, die einer näheren Überprüfung nicht stand halten. Die Belgier haben Angst vor einer Polizei, einer Justiz und einer Politik, die offenbar ziemlich verwoben sind mit dem kriminellen Milieu. Sie wollen den Sicherheitsapparat in der bestehenden Form nicht einfach stärken.
...... Da Schümers Werk in deutscher Sprache eine Monopolstellung hat, ist es unverzichtbar. Lassen Sie sich aber um Gottes Willen nicht von jedem Detail und schon garnicht von seinen Deutungnsansätzen aufs Glatteis führen. Die sind über weite Strecken unglaublich haarsträubend.

...... Rezension zu: Dirk Schümer: Die Kinderfänger. Ein belgisches Drama von europäischen Dimensionen. Siedler-Verlag, Berlin 1997.
...... Brüssel-Rundschau, 28.11.97
...... (c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau 1997

. NÄCHSTER BELGIENKURS
Als Abendkurs über 9 Dienstagabende. Ab 4. Oktober 2005, jeweils 20:15 Uhr bis 21:45 Uhr, in den Räumen der Deutschen Schule. Für KUBI, dort anmelden, siehe www.kubi.be


MALTE WOYDT   RUE JENATZYSTRAAT 16   B-1030 BRÜSSEL   info@woydt.be   TEL./FAX: 0032/2/216.24.99   UST-NR: BE-547.565.295