Malte Woydt
Hilfe für die "Quartiers en crise"

"... und dann haben wir 70 Familien umgesiedelt, innerhalb des gleichen Straßenzuges, wenn gewünscht. Und da waren dann Sonderwünsche zu beachten, eine Portugiesin und eine Maokkanerin wollten partout nicht weiter auseinander wohnen als vorher, dann haben wir die alleinlebende Portugiesin kurzerhand mit der marokkanischen Großfamilie zusammen in ein Haus gesteckt." Stadtsanierung im kleinen.

"Und Sie können sich nicht vorstellen, in welch unglaublichen Zuständen die Leute in der Rue Gray gewohnt haben", fährt Rachid Madrane, der Sanierungsbeauftragte der Stadt Ixelles für die Rue Gray fort, "jährliche Überschwemmungen dort im Tal zwischen Place Jourdan und Place Flagey, wissen Sie was das bedeutet? Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß so Menschen wohnen können, mitten in Brüssel, mitten in Ixelles. Manchmal sind die von der Stadt beauftragten Möbelpacker auf der Stelle umgedreht und haben sich geweigert, Hand anzulegen, bei all dem Schwamm in den Wänden und dem Dreck rundherum."

Zwei Studientage zur Wiederbelebung der Problemviertel von Brüssel in den Halles St.Géry und zum vor vier Jahren aufgelegten Programm "Contrats des Quartiers" der Regionalregierung. Selten wurden die Redner so handgereiflich praktisch wie dieser Vertreter von Ixelles, man verblieb stark im Theoretischen und politisch Unverbindlichen. Nichtsdestrotrotz war es für die anwesenden mehreren hundert Urbanisten, Sozialarbeiter, Vertreter von Bürgerinitiativen, Beamten, Stadträten usw. eine gute Gelegenheit, sich auszutauschen und Bestätigung zu finden für die einsame Arbeit "im Terrain".
 

gesamtes Sanierungsgebiet
1994-1998
 
1997-2001
 
1999-2003
 
Quartiers d'Initiative
URBAN
 

Region und Kommunen haben 1994 die Grenzen des sanierungsbedürftigen Gebietes festgelegt. Da Kräfte und Geldmittel nicht ausreichten, überall gleichzeitig zu beginnen, wurde beschlossen, dieses Gebiet in den folgenden Jahren Stück für Stück zu bearbeiten. Kleinere Einheiten, Quartiers, wurden umrissen, für die jeweils ein "Contrat de Quartier", ein "Stadtviertelsvertrag", abgeschlossen wird (siehe Karte).

In enger Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Bürgerinitiativen und Sozialeinrichtungen widmen sich Region und Gemeinde mit den "Contrats de Quartier" fünf Aktionsfeldern: (1) Kauf, Renovierung, Neubau und (Wieder-)verkauf von Sozialwohnungen, (2) Schaffung von Wohnraum für Familien mit mittleren Einkommen in "Public-private partnerships", (3) Übernahme privat erstellten Wohnraums durch die Gemeinden in Erbpacht, um ihn zu Sozialwohnungen umzuwidmen, (4) Sanierung des öffentlichen Raumes (Bürgersteige, Straßen, Bäume, Grünflächen, Fassadenrenovierung), (5) Finanzierung sozialer Aktivitäten im Viertel (Berufseinstiegshilfen, Spielplätze, Informations- und Begegnungszentren, Stadtteilfeste).

Einhellig berichteten die anwesenden Politiker, Sozialarbeiter und Beamten von den enormen Problemen, das Vertrauen der Bewohner wiederzugewinnen. Zwei oder drei Jahre brauchte man allemal, um eine ausreichende Arbeitsgrundlage zu erreichen. Viele der betroffenen Stadtviertel wurden bereits seit Jahrzehnten vernachlässigt. Allerdings bestände ein großer Unterschied zwischen Vierteln mit funktionierenen Bürgerinitiativen, wo die Leute schon einen Blick fürs Ganze, für ihr Stadtviertel insgesamt entwickelt hätten, und den Vierteln, wo keine Initiativen vorhanden sind, wo allgemeine Lethargie herrsche.

Wer beteiligt sich an den öffentlichen Anhörungen? Der Baustadtrat von Brüssel-Stadt, Henri Simons, berichtete von der Neuanlage eines Parks. Auf mehreren Treffen seien Vertreter belgischer Bürgerinitiativen und ansässige Bürger erschienen, man habe einen gemeinsamen Weg gefunden. Und als jetzt im Sommer nämlicher Park fertig wurde, waren alle die Leute, die vorher an den Besprechungen teilgenommen    hatten, in Urlaub, und der Park voll mit türkischen und marokkanischen Jugendlichen, von denen nie einer aufgetaucht sei. Was bringen öffentliche Anhörungen, wenn man diejenigen, die es wirklich angeht, nicht erreicht?

Die bisherigen "Contrat de Quartiers" waren unterschiedlich erfolgreich, in den Kommunen gibt es zum Teil große Blockaden zwischen verschiedenen Zuständigkeitsbereichen. So in Brüssel-Stadt zwischen den Verantwortlichen für den städtischen Immobilienbesitz und dem Sozialstadtrat. Die Gemeide Ixelles ist dagegen stolz auf ihr Modell, alle Zuständigkeiten, die das Sanierungsviertel betreffen, in die Hand eines einzigen Stadtrates zu legen (Willy Decourty), und die praktische Umsetzung in die Hände zweier jüngerer Personen zu legen, die nicht aus dem Innern der örtlichen Verwaltung kamen.

Für die Regionalregierung zeigte sich Paul Vermeylen zufrieden mit der im Laufe der Jahre angewachsenen Professionalität auf Seiten der Kommunen und dem gemeinnützigen Sektor. Ministerpräsident Charles Piqué rief ins Bewußtsein, das es bis 1990 in dieser Stadt-Region keinerlei "positive Diskriminierung" zu Gunsten einzelner "Stadtviertel in der Krise" gegeben habe, daß der Kampf mit den reicheren Kommunen um die Umschichtug des kommunalen Finanzausgleiches hart gewesen sei.

Und in seiner Funktion als Bürgermeister von St.Gilles erzählte er von früheren Sanierungsprojekten in seiner Kommune, wo sie die Fassaden einer Straße renoviert hätten, aber ohne jegliche Absprache mit den Bewohnern, und wo sich an der Problemlastigkeit des Viertels nichts geändert habe. Die "Contrats des Quartiers" seien demgegenüber ein großer Fortschritt. Die ausgegebene Summe sei weniger entscheidend als die psychologischen Veränderungen in einem gegebenen Stadtviertel, die durch die erfolgreiche Kooperation aller betroffenen Gruppen entstünde.

Bleibt allerdings die Frage von Henri Simons, die von keinem seiner Gesprächspartner aufgegriffen wurde: Drohen mit dem neuen Flächennutzungsplan (PRAS; die BR berichtete) nicht viele Erfolge der "Contrats de Quartier" zunichte zu werden? Schließlich sähe der neue Plan eine Ausweitung von Büroflächen in der gesamten Stadt vor. Bisheriger Schutz von gefährdeten Wohngebieten wird dort erheblich abgebaut...

Im Rahmen der eingangs erwähnten Sanierung der Rue Gray wurden zahlreiche soziologische Umfragen angestellt. "Und", so wieder Madrane, einer der beiden jungen Ixeller Sanierungsbeauftragten, " das Überraschende war, man konnte die Prioritäten der Leute klar nach ihrer Nationlität unterscheiden. Es waren die Marokkaner, die sich eine neue Straßendecke wünschten, breitere Fußwege, renovierte Fassaden, Entfernung von Graffitties und Bäume in der Straße. Die beiden anderen großen ethnischen Gruppen vor Ort, Portugiesen und Belgier, waren vielmehr an neuen Badezimmern und Einbauküchen interessiert."

Karte aus: Initiatives locales et développement social de la ville. Les Cahiers de la DRISU. Gratis erhältlich (in französisch oder niederländisch) bei DRISU, Tel. 505.14.96, Fax: 505.14.07.
 
"CONTRAT DE QUARTIER" IN ZAHLEN 
Die bisherigen sechs "Contrats de Quartiers" umfassen 109 Häuserblocks mit einer Fläche von zusamen 95 ha, 226 betroffene Gebäude, 598 Sozialwohnungen, 17,6 km erneuerte Straßen, 7 neuangelegte Plätze. 1485 Mio. BF öffentliche Mittel für Wohngebäude, 493 Mio. Im öffentlichen Raum, 78 Mio. für Sozialeinrichtungen und 1076 Mio. BF an privaten Investitionen.

  Brüssel-Rundschau  16.10.98

Links:
Charles Piqué Homepage