Malte Woydt
Viviane Forrester
Moralisieren ohne politisches Bewußtsein

erschienen 1998 in der Brüssel-Rundschau

Viviane Forrester regt sich auf. Die Arbeitslosigkeit sei ein Skandal. Schlimmer als ausgebeutet zu werden, sei nicht mehr ausbeutbar zu sein. Es gebe tausende von Alternativen zum Wirtschaftsliberalismus.

Aber: Das sei kein Grund, pessimistisch zu sein. Überall auf der Welt hat Forrester Menschen getroffen, die sich wehren wollen. In Frankreich, Deutschland, Argentinien, selbst in Davos. - Steht auf, wehrt Euch!

... und alles wird gut? Forrester hat ja Recht mit ihrer Empörung, aber sie bleibt im Moralisieren stecken. In bester französischer Tradition überläßt sie das weitere Denken der politischen Klasse ("ich bin für die politische Klasse") - wenn die Regierung nur will, dann kann sie alles bewegen. Auch wenn Jospin im Moment nicht hören wolle, er bleibe doch abhängig von der öffentlichen Meinung. Früher oder später müsse er sich bewegen.

Selbst auf hartnäckigstes Nachfragen weigert sie sich standhaft, auch nur eine ihrer "tausend Alternativen" zum Kapitalismus zu nennen. Es sei die Aufgabe der Schule, den Kindern zu vermitteln, daß die Arbeit nicht das Leben sei. Daß man sich auch mit weniger Arbeitsstunden zufriedengeben solle. Außerdem sollten endlich mehr Lehrer, mehr Krankenschwestern und mehr Polizisten eingestellt werden.

Aber wer soll das finanzieren? Auf die drei wirklich großen Probleme der europäischen Wirtschaftspolitik hat sie keine Antwort: 1. Die rasch steigende Zahl von Menschen, die von Maschinen (und Billiglohnkonkurrenz) vom Arbeitsmarkt vertrieben werden, weil ihre Qualifikationen nicht mehr ausreichen, um diesem Wettbewerb standzuhalten, und denen auch Arbeitszeitverkürzung nicht hilft, da man von Mindestlöhnen nicht auf die Viertagewoche wechseln kann; 2. die großen Regionen in denen es - wie in Ostdeutschland - nicht genügend produktive Betriebe gibt, deren Mitarbeiter ihre Arbeitszeit teilen könnten; 3. die sinkende Fähigkeit der Staaten, multinationale Konzerne zu besteuern und daraus resultierende drastisch sinkende Staatseinnahmen. Ja, sie stellt noch nicht einmal die Fragen. Das wären die Probleme, und es gibt ja sogar Antworten darauf, aber Forester nennt von diesen gerade einmal die Tobin-tax.

Sie hat im vergangenen Jahr großen Wirbel verursacht mit ihrem Buch "Le terreur de l'economie", aber kann das wirklich der einzige Grund gewesen sein, warum der grüne hessische Europaminister zum Empfang bat? Die zahlreichenden Zuhörer in der Hessen-Vertretung waren jedenfalls einmütig enttäuscht, nur das Buffet konnte sie darüber hinwegtrösten.

  (c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau 1998