+Malte Woydt
Konsensdemokratische und mehrheitsdemokratische Systeme in der deutschen Kommunalpolitik

oder der Kölsche Klüngel im Licht der deutschen Kommunalpolitikforschung  

unveröffentlichte Seminararbeit 9/93
(Quellenangaben unter siehe Lijphard 1984: 6-9 und 23-30)

1. Einleitung
2. Politisches System Kommune (?)
    2.1. Was ist Kommunalpolitik?
    2.2. Gemeindeautonomie
    2.3. kommunale Konfliktpotentiale
3. Konsensdemokratie vs. Mehrheitsdemokratie
4. Merkmale konsens- und konkurrenzdemokratischer Kommunalpolitik
    4.1 Freie Wählergemeinschaften
    4.2 Fraktionalisierung
    4.3 Besetzung der Verwaltungsspitze
    4.4 Abstimmungsverhalten in der Kommunalvertretung
5. Empirische Befunde und Erklärungsansätze
    5.1. Modernität
    5.2. Kommunalverfassung
     5.3. Gemeindegröße
    5.4. Sozialstruktur
    5.5. regionale "politische Kultur"
6. Schlußfolgerungen
7. Literatur


1. Einleitung

Die deutsche Kommunalpolitik unterscheidet sich traditionell deutlich von der Politik in den Ländern und dem Bund. Lijphards Beschäftigung mit der Scheidung westlicher Demokratien in konsens- und mehrheitsdemokratische Systeme läßt es interessant erscheinen, die deutsche Kommunalpolitik auf diese Unterscheidung hin zu untersuchen, um vielleicht stärker in das Wesen dieses viel zu wenig erforschten Politikbereiches einzudringen.

Ich versuche hier verschiedene kommunalpolitische Studien, die zu diesem Thema Aussagen treffen, zusammenzuführen. Zentral ist für diese Arbeit ein Aufsatz von Oskar W. Gabriel indem er ebenfalls versucht, Lijphards Typologie auf die Kommunalpolitik umzubrechen. Dies aber sehr knapp, und in einigen Teilen nicht ganz überzeugend, wie zu zeigen sein wird.

Die Arbeit läßt die ostdeutschen Bundesländer ebenso außer Acht wie die Auswirkungen der neuen Gemeindeordnung in Schleswig-Holstein und der Direktwahl des Bürgermeisters in Hessen, da ich keine Untersuchungen aufgetan habe, die sich mit diesen Entwicklungen bereits beschäftigt hätten.

2. Politisches System Kommune (?)

Die Fragestellung überträgt ein für die Beschreibung gesamtstaatlicher Poli-tik entwickeltes Modell auf Kommunalpolitik. Sinnvoll ist sie mithin nur, man sich Kommunalpolitik als politisches System beschreiben läßt. Im folgenden Abschnitt wird geklärt, 1. was unter Kommunalpolitik zu verstehen ist, 2. ob die Gemeinden ausführende Organe sind, oder autonome Entscheidungen fällen können und 3. ob die in den Gemeinden anfallenden Entscheidungen eine Suche nach der objektiv bestimmbaren besten Lösung darstellen ("Sachentscheidungen"), oder politische Entscheidungen in dem Sinne sind, daß programmatisch begründete Auswahl zwischen Alternativen stattfindet.

2.1. Was ist Kommunalpolitik?

Gegenstand dieser Arbeit ist die deutsche Kommunalpolitik. Unter Kommunalpolitik werden nach Wehling Wehling 1991: 150 alle diejenigen Entscheidungsprozesse (input) und deren Ergebnisse (output) verstanden, die im Rathaus zentriert sind: im Rat und der Verwaltung, auf der Grundlage der Spielregeln der je-weiligen Gemeindeordnung. Lokalpolitik ist demgegenüber der weitere, umfassendere Begriff, der die Gemeinde als Handlungsebene bezeichnet. Als solcher umfaßt er sowohl die Kommunalpolitik als auch z.B. die Bemühungen von Lokalmatadoren, zu einem Bundestagsmandat zu gelangen.

In den alten Bundesländern gibt es 8501 Gemeinden (Stand 1981). 1989 hatten 75,1% der Gemeinden weniger als 5.000 Einwohner, in ihnen lebten 14,9% der Bürger. Insgesamt 98,3% der Gemeinden weisen nicht mehr als 50.000 Einwohner auf, in ihnen leben 57,6% der Bevölkerung. Nur 33,4% der Bevölkerung wohnen in den 0,7 der Gemeinden, die über 100.000 Einwohnern haben.Wehling 1991: 158 Diese Verteilung fällt für die unterschiedlichen Flächenländer sehr unterschiedlich aus.Wehling 1983: 45 Diese Arbeit beschränkt sich auf die alten Bundesländer, da ich - wo schon für diese die Literaturlage relativ dürftig ist - über ostdeutsche Kommunen keine Literatur gefunden habe.

2.2. Gemeindeautonomie

Die Gemeinden stellen die unterste Ebene des gegliederten Staatsaufbaus der Bundesrepublik dar. Über ihnen stehen nicht nur der Bund und die Bundesländer sondern auch Regierungsbezirke und Kreise (letztere gelten zwar auch als kommunale Ebene, werden hier aber aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht behandelt). Die Rolle der Gemeinden wird in Anlehnung an Art.28 des Grundgesetzes wie folgt beschrieben: Die Gemeinden haben die "sachliche, an bestimmten Aufgaben orientierte Kompetenz..., alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu regeln, ohne daß ihre Zuständigkeit durch besonderen Akt zugewiesen werden müßte".Roters 1984: 380-383 Sie sind nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes für kommunale Angelegenheiten nur solange zuständig, wie Bundes- und Landesgesetzgeber von ihrer Gesetzgebungsbefugnis nicht Gebrauch machen. Mit dem Gesetzesvorbehalt verbunden ist ein System gestufter Staatsaufsicht, die übergeordnete staatliche Aufsichtsbehörden dazu befugt, Entscheidungen und Maßnahmen kommunaler Selbstverwaltung hinsichtlich ihrer Gesetzmäßigkeit - und partiell auch Zweckmäßigkeit - zu kontrollieren. Holtmann 1990: 3

Die Gemeinden können nur weniger als ein Drittel ihrer Einnahmen selbst beeinflussen (in erster Linie Gewerbesteuerhebesatz und Gebühren für kommunale Leistungen). Der größte Teil ihrer Einnahmen sind Anteile von Bundes- und Landessteuern sowie zweckgebundene Zuweisungen von Land und Bund. Zudem fließt der größte Teil der Ausgaben entweder in die Ausführung von Landes- und Bundesgesetzen gebunden oder in Gemeinschaftsaufgaben, die bei Einvernehmen der drei Ebenen durch Mischfinanzierung ausgeführt werden.Häußermann 1991: 56/57 Insbesondere die Kosten für die Sozialhilfe haben die Kommunen in arge Finanznöte gebracht.Häußermann 1991: 71 Dabei sind die Gemeinden auch noch im Gegensatz zu Bund und Ländern per Gesetz zu einem ausgeglichenen Haushalt gezwungen. Die teilweise sehr rigide Kontrolle der kommunalen Haushalte durch die Kommunalaufsicht der Länder hat dazu geführt, daß die Gemeinden in den 80er Jahren deutlich stärker gespart haben als Bund und Länder.Häußermann 1991: 59

Dennoch ist Häußermann nicht völlig zuzustimmen, wenn er meint, daß Funktionen und Handlungsspielräume der Gemeinden kaum als autonom bezeichnet werden könnten. Es bleibt ein Rest an kommunalem Entscheidungsspielraum, zwei Drittel aller jährlichen öffentlichen Investitionen werden durch kommunale Körperschaften getätigt.Holtmann 1992: 13 Aufgrund der starken Verflechtung mit Land und Bund bei dennoch vorhandener "Teilautonomie" könnte man sie als "Subsysteme" bezeichnen, die genügend Merkmale eines politischen Systems haben, um die hier aufgeworfene Frage nach Systemeigenschaften beantworten zu können.

Nach Maßgabe des Grundgesetzes müssen die Gemeinden demokratisch organisiert sein. Die Gemeindeverfassungen sind jeweils auf Länderebene einheitlich in Gemeindeordnungen geregelt. In Westdeutschland gibt es vier Typen der Gemeindeverfassung.

2.3. kommunale Konfliktpotentiale

Nur wo Konflikte vorkommen, indem mindestens zwei Handlungsalternativen Fürsprecher gefunden haben, entsteht die Frage nach mehrheits- oder konsensorientierter Entscheidungsfindung.

Die aktuelle Entwicklung in klassischen kommunalen Aufgabenbereichen wie Wohnen, Verkehr, Energie, Soziale Dienste und Abfallentsorgung hat inzwischen ein Stadium erreicht, das diese Bereiche als kritische Problemfelder ausweist. Die Problemverschärfung erzeugt nach Holtmann einen steigenden Belastungs- und Erwartungsdruck für kommunale Akteure, der Politisierungsschübe freisetzt.Holtmann 1992: 17/18 Konflikte der "großen Politik" geraten so auf die kommunale Ebene (auch schon allein durch die mit Bund und Land gemeinsam zu erledigenden Gemeinschaftsaufgaben). Der Gesetzgeber hat z.B. im Sozialbereich den Gemeinden kostenintensive Aufgaben verpflichtend auferlegt, ohne sie mit einer angemessenen Finanzausstattung zu versehen. Die dadurch entstehende extreme Ressourcenknappheit kann zu einer starken Polarisierung bei Kürzungsmaßnahmen führen. Die Konfliktpotentiale in den Gemeinden sind so gering nicht, politische Entscheidungen im Sinne der programmatisch bestimmte Auswahl unter Alternativen kommen vor, Kommunalpolitik muß mitnichten reines Nachvollziehen von Sachzwängen bedeuten.

Allerdings gibt es Untersuchungen, die behaupten, daß die parteipolitische Konstellation im Gemeinderat Ausmaß und Richtung der kommunalen Eigeninvestitionen allenfalls graduell, am ehesten noch bei Verkehrsbaumaßnahmen, beeinflusse. Gabriel u.a. 1990: 159

Wehling meint, es gäbe "nur wenige" strittige inhaltliche Gebiete der Kommunalpolitik, über die es zu Kontroversen und anschließenden Mehrheitsentscheiungen kommt: Personalentscheidungen, Gewerbesteuerhebesätze, Umfang der gemeindlichen Investitionsaufgaben, Privatisierung bisheriger Gemeindeaufgaben, Jugendhäuser (wenn ja: selbstverwaltet oder nicht), Zuschüsse für Einrichtungen und Veranstaltungen alternativer Gruppen und für Pro Familia, Einrichtung der Stelle einer Frauenbeauftragten (wenn ja: haupt- oder nebenamtlich). Hier aufkommende allgemeinpolitische und ideologische Argumentationen seien vielfach nur Verbrämungen handfester lokaler Interessen.Wehling 1991: 156 Auf jedenfall Konfliktstoff genug, um die Vorstellung von kommunaler Selbstverwaltung als "unpolitische Sachpolitik" zu widerlegen!

3. Konsensdemokratie vs. Mehrheitsdemokratie

Arendt Lijphard unterscheidet in seiner Typologie politischer Systeme kon-sens- und mehrheitsdemokratische Spielarten.Lijphard 1984 In einem konsensdemokratischen System (auch: Konkordanzdemokratie) suchen die politischen Kräfte die anliegenden Aufgaben einvernehmlich oder doch mit möglichst breiter Beteiligung zu erledigen. In einem mehrheitsdemokratischen System (auch: Wettbewerbs- oder Konkurrenzdemokratie) setzt sich auch eine knappe Mehrheit bei Entscheidungen durch. Der Minderheit bleibt als Opposition die Kontrolle der Regierung.

Mehrheitsdemokratie ist in dem betrachteten Modell die ideale Form für relativ homogene Gesellschaften in denen aufgrund einer gewissen Flexibilität der Wähler alle relevanten politischen Gruppen die Chance haben, die Macht zu erringen.

Konsensdemokratie wird von Lijphard Lijphard 1984: 22/23 verstanden als adäquater Entscheidungsmechanismus für stark diversifizierte Gesellschaften. Staaten mit strukturellen Minderheiten können nicht nach dem Mehrheitsprinzip verfahren, da sie damit die Loyalität der Minderheiten verlieren. Man ist sich der Konflikte und ihrer systemsprengenden Kräfte bewußt, und "verordnet" sich als Alternative zum Bürgerkrieg die Konsensdemokratie. Klassische Beispiele sind Österreich und die Schweiz.

Ganz anders gelagert die deutsche Kommunalpolitik. Hier ist vom "traditionellen Selbstverwaltungsverständnis" die Rede, und der konsensdemokratischen Strukturen, die daraus resultieren. Dieses traditionelle Verständnis von Kommunalpolitik, man kann wohl schon von Selbstverwaltungsideologie sprechen, geht davon aus, daß es in der Kommunal"politik" nicht um politische Fragen, also die Wahl zwischen programmatisch begründeten Alternativen, sondern um objektiv entscheidbare Sachfragen ginge. Konflikte werden als nicht existent angesehen, konfliktbewußtes Verhalten als unbegründete Provokation aufgefaßt.

Niedriges Konfliktbewußtsein führt also zu Konsensdemokratie, sehr hohes auch. Mehrheitsdemokratie scheint nur mit einem "mittleren" Konfliktbewußtsein möglich. Lijphard thematisiert die hier aufgeworfene Frage nach der Bewußheit politischer Konflikte gar nicht, sie wird auch hier weitgehend außer Acht gelassen.

4. Merkmale konsens- und konkurrenzdemokratischer Kommunalpolitik

Lijphards Typologie setzt Systeme voraus, die ihre Rahmenbedingungen selbst setzen, weshalb alle institutionellen und prozeduralen Merkmale des politischen Systems als "Symptome" konsens- oder mehrheitsdemokratischer politischer Kultur gesehen werden können. Kausale Beziehungen zwischen diesen Merkmalen können außer Acht gelassen werden, weil im Prinzip alle vom politischen System selbstbestimmt sind.

Eine Kommune hat als Subsystem auf diese Merkmale höchst unterschiedlichen Einfluß, die institutionellen Rahmenbedingungen werden von außen durch die jeweils für alle Gemeinden eines Bundeslandes geltenden Gemeindeverfassungsgesetze festgelegt. Hier werden deshalb als Merkmale für die konsens- oder mehrheitsdemokratische Ausrichtung des lokalen politischen Systems nur diejenigen Lijphardschen "Symptome" aufgeführt, die nicht extern vorgegeben sind. Die restlichen "Symptome" lassen sich vielleicht als Ursachen festmachen, darauf wird weiter unten eingegangen.

Oskar W. Gabriel ist bei seinem Versuch, die Lijphardsche Typologie auf rheinland-pfälzische Kommunen anzuwenden, ähnlich verfahren, ohne darauf hinzuweisen. Die externen Merkmale der Gemeinden in seiner Untersuchung sind identisch, da sie alle dem rheinland-pfälzischen Kommunalverfassungsgesetz unterliegen. Er macht die Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie auf kommunaler Ebene an folgenden Größen fest:

"(1) an der Bedeutung der explizit antiparteilich agierenden Freien Wählergruppen,
(2) an der Fraktionalisierung des lokalen Parteiensystems,
(3) an der parteipolitischen Zusammensetzung der Verwaltungsspitze und
(4) am Abstimmungsverhalten der Kommunalvertretung bei wichtigen kommunalen Entscheidungen."Gabriel 1991: 375

Er hat damit die in Frage kommenden Lijphardschen Merkmale siehe Lijphard 1984: 6-9 und 23-30 aufgegriffen:

(1) Machtkonzentration durch Einparteienkabinette oder kleinstmögliche Koalitionen gegenüber Machtverteilung durch große Koalitionen. Man kann untersuchen, ob mehr Parteien in den gewählten Positionen vertreten sind, als nötig (Gabriel-3) und ob bei wichtigen Abstimmungen häufig mehr Zustimmung erfolgt, als nötig wäre.

(2) Geringe Zahl von Parteien gegenüber großer Zahl von Parteien. Dies entspricht der Frage nach dem Ausmaß der Fraktionalisierung des lokalen Parteiensystem (Gabriel-2).

(3) eindimensionales Parteiensystem (nur ein Cleavage) gegenüber mehrdi-mensionalem Parteiensystem (mit mehreren Cleavages). Unter der Annahme, daß die Existenz von Parteien hren Grund in Spaltungen der Gesellschaft hat, könnte man diesen Punkt als in vorhergehenden inbegriffen verstehen.
Die Frage nach der Stärke Freier Wählergemeinschaften hat Gabriel selbst hinzugefügt, ein entsprechendes Merkmal gibt es bei Lijphard nicht.

Im Folgenden werden die einzelnen Merkmale mit ihren Implikationen diskutiert.

4.1 Freie Wählergemeinschaften

Gabriel hat diesen Punkt den Lijphardschen Merkmalen hinzugefügt mit der Begründung, daß die Stärke der Freien Wählergemeinschaften auf den "Fortbestand konsensdemokratischer Strukturen" hindeute, da sie "zumeist bewußt antiparteilich" agierten und eine Entpolitisierung lokaler Streitfragen anstrebten. Er schreibt zwar selbst, daß "nicht auszuschließen" sei, daß in "einzelnen Fällen" Parteien, Parteibündnisse oder -absplitterungen unter dem Etikett einer Freien Wählergruppe aufträten. Da hier aber vorhandene antiparteiliche Stimmungen genutzt würden, indizierten auch derartige Wählergemeinschaften Vorbehalte gegen mehrheits- oder wettbewerbsdemokratische Formen der Konfliktregulierung, was anscheinend in seinen Augen identisch ist mit konsensdemokratischer Ausrichtung des lokalen politischen Systems. Gabriel 1991: 376

Hierzu ist zweierlei zu sagen:

Der Anteil parteipolitisch klar zuordnenbarer Wählergemeinschaften ist weit größer als hier mit "einzelnen Fällen" suggeriert. Bei einer 1987 erstellten Umfrage von Helmut Köser und Marion Caspers-Merk unter Mandatsträgern der Freien Wählergemeinschaften in Baden-Württemberg gaben 50% der Befragten an, ihre Liste einer Partei zuzurechnen (35% CDU, 4% SPD, 8% FDP, 3% GRÜNE). Weitere 4% sahen in ihrer Liste die Institutionalisierung von Bürgerinitiativen.unveröff., zit. bei Wehling 1991: 152  Wobei auf der anderen Seite auch auf Parteilisten viele parteilose ungebundene Kandidaten stehen. Wehling 1991: 153

Weder das Vorhandensein antiparteilicher Stimmungen in der Bevölkerung noch Forderungen nach einer Entpolitisierung lokaler Streitfragen müssen etwas über örtliche Konfliktregelungsmechanismen an sich aussagen; sie könnten natürlich eine Ursache für konkordanzdemokratisches Verhalten der Mandatsträger sein, was aber zu überprüfen wäre.

Die Stärke Freier Wählergemeinschaften läßt darauf schließen, daß das bundesweite Parteiensystem nur beschränkt als adäquater Ausdruck der lokalen Cleavages begriffen wird. Es ist aber ein Trugschluß, zu meinen, deshalb sei das lokale politische System nun per se unpolitischer oder konfliktärmer.

Freie Wählergemeinschaften nutzen Defizite im System der "großen" Parteien. Das Vorhandensein etwa einer der CDU nahestehenden FWG neben der örtlichen CDU-Liste wiese z.B. zuallererst auf die Unfähigkeit des lokalen christdemokratischen Millieus hin, einen für eine gemeinsame Partei nötigen Grundkonsens zu finden. Wenn FWG in relativ homogenen kleinen Gemeinden am stärksten sind, in denen bei Bundestagswahlen überwältigende Mehrhei-ten für eine Partei erzielt werden, da die Gemeindebürger sich bezüglich der bundesweiten Cleavage- und Parteistruktur alle gleich einordnen, zeigt das eher einen Zwang zum Wettbewerb. Lokale an sich schwache Cleavages führen zur Spaltung der örtlichen "Einheitspartei" und zu großer Zersplitterung der politischen Kräfte.ähnlich: Wehling 1991: 164/165

4.2 Fraktionalisierung

Die Existenz Freier Wählergruppen könnte jedoch Auswirkungen in Form einer stärkeren Fraktionalisierung des lokalen Parteiensystems haben, wenn die FWG zusätzlich zu den "großen" Parteien aufträten.

Die Frage nach der Fraktionalisierung wirft für die Übertragung des Lijphardschen Modells auf die Kommunalpolitik Probleme auf, da sie in Abhängigkeit vom zugrundegelegten Konsensmodell wiedersprüchliche Erwartungen erzeugt. Die Vorstellung, eine große Zahl von Parteien hätte einen Zwang zu übergroßen Koalitionen und damit zur Konsensdemokratie zur Folge entspricht dem o.e. "politischen" Konsensmodell der Demokratietheorie, aber eigentlich nicht dem "unpolitischen" Konsensmodell der deutschen Kommunalwissenschaft.

So wäre die politische Konsensdemokratie Ergebnis einer starken Versäulung des Parteiensystems mit stabilen Wähleranteilen. Wenn ohnehin alle mitregieren, entfällt der Zwang zur Konzentration des Parteiensystems zwecks Mehrheitsgewinnung weshalb eine starke Zersplitterung des Parteiensystems entstehen könnte, wenn (ansonsten) innerparteiliche pressure groups ihre Interessen direkt im Kabinett vertreten wollen.

Die unpolitische Konsensdemokratie fände ihren idealen Ausdruck in einem Einparteiensystem. Wo Konflikte geleugnet werden, besteht auch kein Anlaß zur Gründung von konkurrierenden Parteien.

4.3 Besetzung der Verwaltungsspitze

Die Verwaltungsspitzen der deutschen Kommunen bestehen aus (Ober-)Bürgermeistern und/oder Stadtdirektoren sowie Dezernenten. Diejenigen Posten hierunter, die durch Wahl vom Kommunalparlament besetzt werden, lassen sich auf ihre parteipolitische Zusammensetzung hin überprüfen. Wenn hier mehr Parteien vertreten sind, als zur einfachen Mehrheit nötig, oder gar Parteienproporz vorherrscht, handelt es sich um ein konsensdemokratisches System. Zu beachten ist bei diesem Ansatz freilich, daß im Bereich der süddeutschen Ratsverfassung (Baden-Württemberg und Bayern) der Oberbürgermeister direkt vom Volk gewählt wird, und daß die Amtszeiten der Bürgermeister, Dezernenten etc. zumeist eine oder mehrere Legislaturperioden überdauern. Man müßte also eigentlich den jeweiligen Wahlvorgang betrachten, um festzustellen, ob die vorgefundene Konstellation gewollt war.

4.4 Abstimmungsverhalten in der Kommunalvertretung

Wie im Bundestag werden in Kommunalparlamenten die meisten Entscheidungen einstimmig getroffen. Gabriel bemerkt zutreffend, daß sich ein beträchtlicher Teil der Ratsentscheidungen auf Routineangelegenheiten und auf die Regelung politisch unkontroverser administrativer Einzelfragen beziehe, und man deshalb dieses Entscheidungsverhalten nicht ohne weiteres als Indikator konsensdemokratischer Strukturen interpretieren solle. Er schlägt deshalb vor, lediglich kommunale Schlüsselentscheidungen wie die Abstimmungen über den Kommunalhaushalt zu betrachten.Gabriel 1991: 388/389 Wenn selbst diese Abstimmungen mit übergroßen Mehrheiten gefällt werden, handelt es sich zweifelsfrei um ein konsensdemokratisches System.

Wehling führt als besonderes mehrheitsdemokratisches Merkmal an, wenn Fraktionen generell geschlossen abstimmen, und so Vorbesprechungen einen großen Einfluß auf die Entscheidungsfindung haben. Wehling 1991: 151

5. Empirische Befunde und Erklärungsansätze

Gabriels Rheinland-Pfalz-Studie ergab entgegen Lijphards Konzeption keine eindimensionale Typologie mit zwei gegenüberstehenden Modellen, sondern eine zweidimensionale.
Der erste Faktor besteht aus: der zweite aus: wobei die Variable Abstimmungen über den Etat auch mit dem zweiten Faktor in erkennbaren Zusammenhang steht; trotzdem korrelieren die beiden Faktoren nur äußerst schwach miteinander. Gabriel 1991: 392-394

Das bestätigt meine oben geäußerten Zweifel, daß dies beiden letzteren Variablen zwingend etwas mit der konsens- oder mehrheitsdemokratischen Ausrichtung des politischen Systems zu tun haben. Was die Ausführungen im Folgenden schwierig macht, ist, daß alle mit dem Thema beschäftigten Autoren (bis auf Gabriel angesichts dieser Ergebnisse) hier den Zusammenhang ähnlich sehen, wie nach der Lijphardschen und Gabrielschen Vermutung anzunehmen. Ich führe hier trotz dieses Widerspruchs die Erklärungsansätze für das Vorkommen von Konsendemokratie oder Mehrheitsdemokratie an.

Die benutzten Studien liefen unter der Fragestellung, wo eine Parteipolitisierung der Kommunalpolitik zu finden sei. Eines der Anzeichen einer zunehmenden Parteipolitisierung von Kommunalpolitik wird in der Zunahme mehrheitsdemokratischer Verhaltensmuster gegenüber konsensdemokratischen gesehen.  Insofern bieten diese Studien Material für die hier untersuchte Fragestellung, auch wenn sie in der Mehrzahl aufgrund der Ausklammerung von Freien Wählergruppen aus dem zugrundegelegten Parteibegriff ansonsten wenig hilfreich erscheinen. stellvertretend: Wehling 1991: 151

5.1. Modernität

Gabriel verweist darauf, daß weder der bisherige Stand der Theoriebildung noch die Datenlage weitreichende Aussagen zuließen. Er zieht als Erklärungsversuch die Modernisierungstheorien von Lipset, Cnudde/McCrone und Cutright heran, in denen die Hypothese aufgestellt werde, daß die sozioökonomische Modernisierung einer Gemeinde die Ausbildung konkurrenzdemokratischer Strukturen fördere. Auch Lijphard sehe die Konsensdemokratie nur als Übergangslösung für kulturell fragmentierte Gesellschaften. Mit der parallel zur sozioökonomischen Modernisierung verlaufenden kulturellen Säkularisierung könnten sich auch die sozialen Konflikte entschärfen, die konkordanzdemokratische Arrangements erforderlich machten. Vgl. bspw. Wehling 1991

Ich halte diese Begründung insofern für nicht stichhaltig, als die kommunale "unpolitische" Konsensdemokratie ja nicht aufgrund einer tiefgreifenden Spaltung, sondern aufgrund der deutschen Selbstverwaltungsideologie betrieben wird.

Gabriel kommt zu dem Ergebnis, daß konsensdemokratische Führungs- und Entscheidungsstrukturen in Städten mit hoher Dienstleistungszentralität und Bevölkerungskonzentration etwas seltener aufträten als in den übrigen Gemeinden. Wesentlich deutlicher beeinflusse die Modernität jedoch die Struktur des lokalen Parteienwettbewerbs. Das Auftreten fragmentierter Parteienwettbewerbsstrukturen ist demnach vor allem in Dienstleistungsgemeinden mit schwacher Bevölkerungskonzentration aber einer wachsenden Bevölkerungszahl zu erwarten, bipolare Parteiensysteme mit einem geringen Anteil der Freien Wähergruppen treten demgegenüber in Städten mit einem schwach entwickelten Dienstleistungssektor, stagnierenden bzw. schrumpfenden Einwohnerzahlen und einer starken Bevölkerungskonzentration auf. Gabriel hat selber keine weitere Erklärung für diese Ergebnisse parat. Gabriel 1991: 394

Auch unabhängig von der eben so ausgiebig zitierten Studie sprechen einige Anzeichen dafür, daß mehrheitsdemokratische Strukturen ein Anzeichen von Modernität einer Kommune sein könnten. Man könnte den Begriff viel einfacher auch operationalisieren durch "Zunahme im Zeitverlauf" oder "Zustimmung ist bei späteren Jahrgängen höher als bei früheren". Für beide Operationalisierungen gibt es Belege. Gabriel 1991: 395/396

Zwischen 1974 und 1984 hat in Rheinland-Pfalz die Zahl von Städten, in denen sich die Mehrheitspartei exklusiven Zugriff auf die zu besetzenden Posten gesichert hat, zuungunsten von Allparteienkoalitionen signifikant zugenommen hat (wenn auch das Schwergewicht weiterhin deutlich auf übergroßen Koalitionen lag).Gabriel 1991: 386

Eine Befragung von Mitgliedern von CDU-Oppositionsfraktionen in nordhrein-westfälischen Großstädten ergab: "Die jungen akademisch gebileten Befragten erweisen sich als die am stärksten parlamentarisch, parteienstaatlich [und damit mehrheitsdemokratisch] orientierte Gruppe. Die Einstellungen erwiesen sich als unabhängig von Geschlecht, Konfession, Beruf, Beschäftigungsverhältnis und Einkommen." Gabriel 1984: 125-127

Wehling meint, da die Befunde nicht nur spärlich seien, sondern auch Zeitreihen fehlten, sei die Hypothese von der zunehmenden "Parteipolitisierung" letztlich nicht zu überprüfen. Wehling 1991: 158

Holtmann sieht eine allgemeine Problemverschärfung in kommunalen Aufgabenbereichen, wie Wohnen, Verkehr, Energie,  Soziale Dienste und Abfallentsorgung, die Konflikte anschwillen ließe und damit mehrheitsdemokratisches Verhalten förderte.Vgl. Holtmann 1992: 17  "Bei der Planung von Mülldeponien, Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen sind Standortkonflikte mittlerweile vorprogrammiert. Wo Anliegerproteste aufbrechen, werden lokale Probleme in den Bereich öffentlicher Kontroversen gerückt und dadurch als Sache politisiert."Holtmann 1992: 19

Wehling schreibt, daß seit der Wahl der Grünen in die Gemeinderäte die Zahl der einstimmigen Beschlüsse abgenommen habe. Das spiegele aber weniger eine zunehmende Parteipolitisierung wider als einerseits das Verständnis von kommunaler Demokratie der Grünen (!) und andererseits deren Isolation und Ausschluß von den Aushandlungsprozessen der anderen Fraktionen.Wehling 1991: 157

Gestützt werden diese Thesen auch durch eine jüngere Untersuchung, in der die Ratsmitglieder aus vier Städten nach ihren Ausgabepräferenzen gefragt wurden. Verglichen mit früheren Erhebungen hat insbesondere die steigende Präsenz postmaterialistischer Werte zur Folge, daß die im Rat vertretenen Ausgabepräferenzen gegensätzlicher sind als früher.Vgl. Gabriel u.a. 1992

5.2. Kommunalverfassung

In Westdeutschland gibt es vier Typen der Gemeindeordnung:
1) Die Magistratsverfassung: Der Gemeinderat wählt den Vorsitzenden aus seiner Mitte für die Dauer seiner Amtszeit. An der Spitze der Verwaltung steht ein Magistrat als kollegiale Kommunalregierung, deren Vorsitzender der Bürgermeister als Primus inter pares ist. Der Gemeindevorstand wird vom Gemeinderat gewählt. Die Magistratsverfassung galt in Hessen und Schleswig-Holstein (in letzterem mit Ausnahme kleinerer Gemeinden) bis zu den Gemeindeverfassungsreformen der letzten Jahre.

Die Kommunalverfassungen von Hessen und Schleswig-Holstein zwingen die parlamentarische Minderheit direkt in eine kollegial angelegte Stadtregierung. Was keinen Druck zur konsensualen Entscheidungsfindung erzeugt, sondern nur dazu führt, daß die eigentlichen Entscheidungen weder in der Stadtregierung noch in den öffentlich tagenden Ausschußsitzungen gefällt werden, sondern in den Vorbesprechungen der Fraktionen. Schmidt-Eichstaedt 1985: 33

2) Bürgermeisterverfassung: Der Bürgermeister ist zugleich Vorsitzender des Gemeinderates und seiner Ausschüsse sowie Leiter der Verwaltung. Er wird vom Gemeinderat gewählt. Die Bürgermeisterverfassung gilt in Rheinland-Pfalz und im Saarland.

Die Gabriel-Studie hat gezeigt, daß in Rheinland-Pfalz konsensdemokratische Strukturen zwar noch deutlich überwiegen, aber etwas am zurückgehen sind. Der Einfluß dieser Kommunalverfassung scheint gering zu sein.

3) Norddeutsche Ratsverfassung: Der Vorsitzende des Gemeinderates führt den Titel Bürgermeister, der Gemeindevorstand heißt Gemeinde- bzw. (Ober-)Stadtdirektor. Der Gemeindevorstand wird vom Rat gewählt. Die Norddeutsche Ratsverfassung gilt in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Rüdiger Voigt beschreibt die Realität des Nordrhein-Westfälischen Systems als Konkurrenz zwischen dem Vorsitzenden der Mehrheitsfraktion im Rat, Gemeindedirektor als Verwaltungsspitze und Bürgermeister als Ratsvorsitzender. "Gewinnen" tut derjenige, der die besten Kontakte zu Landes- oder Bundesebene hat. Ein und dieselbe Kommunalverfassung kann zu mindestens drei verschiedenen Machtkonstellationen führen.Voigt 1992: 11  In kleinen Gemeinden führt es mangels kompetenter und einflußreicher Persönlichkeiten unter den Ehrenamtlichen zu einer Dominanz des Gemeindedirektors, was ähnliche Auswirkungen wie die süddeutsche Ratsverfassung hat. In den großen Städten scheint es derart zum Machtkampf zu reizen, daß klar mehrheitsdemokratische Tendenzen hervortreten. Vgl. Voigt 1992

Bei einer Befragung des Innenministers von Nordrhein-Westfalen gaben 58,7% aller antwortenden Ratsmitglieder an, "die Beratungen seien im Rat und in den Ausschüssen nur noch Formsache, weil die Vorentscheidungen bereits in den Fraktionen getroffen worden seien." Wehling 1991: 157

4) Süddeutsche Ratsverfassung: Der Bürgermeister als Vorsitzender des Gemeinderates und Leiter der Verwaltung wird direkt vom Volk gewählt. Die Süddeutsche Ratsverfassung gilt in Baden-Württemberg und Bayern. Wehling 1983: 49-51

Die Baden-Württembergische Gemeindeordnung sieht vor, daß die Fraktionen in der Reihenfolge ihrer Stärke ein Präsentationsrecht für die Beigeordneten haben. Wehling 1991: 154 Sie zwingt die Parteien also unter Führung des von ihnen unabhängigen, da direkt gewählten Bürgermeisters stark in konsensdemokratische Arbeitsformen. Ein direktgewählter Bürgermeister, der durch Parteipolitisierung der Personalpolitik auffällt, bekommt den Antiparteienaffekt der Bürger bei einer anstehenden Wiederwahl negativ zu spüren. Wehling 1991: 155

"Unpolitische, Parteipolitik gegenüber feindlich gesonnene Selektionskriterien der Wähler können dann besonders gut zum Zuge kommen, wenn eine Bindung an Listen und die Reihenfolge auf ihnen nicht besteht: bei der Möglichkeit zu panaschieren und zu kumulieren [wie in Baden-Württemberg]." Diese Möglichkeit hat auch weitreichende Auswirkungen auf den Nominierungsprozeß der Parteien indem diese vermehrt örtliche Honoratioren aufstellen. Wehling 1991: 159

FONT SIZE=-1>5.3. Gemeindegröße

Der unumstrittenste Faktor für die Parteipolitisierung (und damit mehrheits-demokratische Ausrichtung) der Kommunalpolitik ist die Gemeindegröße. Je größer die Gemeinde, desto parteipolitisierter in allen Faktoren.so z.B. Holtmann 1990: 11; Wehling 1991: 158 Deutlicher wird Köser, der eine zweifache kommunale Verfassungswirklichkeit konstatiert: Konsensdemokratie in Gemeinden bis zu 5.000 Einwohnern, Mehrheitsdemokratie in Gemeinden über 50.000 Einwohnern mit fließenden Übergängen dazwischen. Köser 1991: 159/160

Erklärungen für diesen Befund sind: Mit zunehmender Gemeindegröße muß der Wähler von der Orientierungsfunktion der Parteien Gebrauch machen, da er das Kandidatenangebot nicht überschauen kann. Mit zunehmender Größe der Räte werden parlamentarische Prozeduren zunehmend funktional, deren Handhabung erleichtert wird durch ein mit der Ortsgröße zunehmendes mehrheitsdemokratisches Selbstverständnis der Ratsmitglieder. Wehling 1991: 158/159 Im Gegensatz dazu gilt, je kleiner eine Gemeinde ist, desto homogener und konfliktfreier. Wehling 1991: 160

In kleinen und mittleren Gemeinden muß man potentiellen Kandidaten eher nachlaufen, als daß man unter einem größeren Angebot auswählen könnte.Wehling 1991: 161  Daraus resultiert dann eine für konfrontative Politik zu geringe Geschlossenheit der Fraktionen.

5.4. Sozialstruktur

Klassische Bedingung für ein lokales Zwei- oder Mehrparteiensystem ist die "Existenz mehrerer parteipolitisch unterschiedlich etikettierter Millieus in ein und derselben Gemeinde", wobei die Größenverhältnisse dann jeweils dafür verantwortlich sind, ob eine Chance zum Wechsel besteht. Etwa die Hälfte aller niedersächsischen Gemeinden sind z.B. derart ausgesprochene Hochburgen von CDU oder SPD, daß Machtwechsel als "recht unwahrscheinlich" erschienen, berichtet Wehling mit Berufung auf Naßmacher. Naßmacher 1981, zit. in: Wehling: 1991: 164
Ganz so einfach sei es allerdings nicht, Wehling stellt fest, daß ein Großteil der Gemeinden, in denen die CDU bei Landtagswahlen über 70% der Stimmen erhält, in der Kommunalpolitik ein Zweiparteiensystem kennt - mit Freien Wählern als Gegenpart. Wehling 1991: 164

Universitätsstädte stellen nach Wehling einen Sonderfall dar. Wegen der mangelnden lokalen sozialen Verankerung der Universitätsangehörigen als Ratsmitglieder und deren dadurch bedingten geringeren Rücksichtnahmeerfordernis könnten Meinungsverschiedenheiten härter ausgetragen werden als andernorts; die akademische Ausbildung begünstige zudem die Rückbindung an übergeordnete politische Positionen.Wehling 1991: 157

5.5. regionale "politische Kultur"

Wehling und Siewert belegten beim Vergleich von Württemberg und Baden, daß eine Übertragung ein- und desselben Verfassungstyps auf ein anderes Land andere Ergebnisse zur Folge haben kann. Untersuchung von 1987, zit. in: Wehling 1991: 159

Die Ursachen für unterschiedlich ausgeprägte Konfliktlinien in verschiedenen Regionen sind in der jeweiligen territorialen oder lokalen Geschichte zu suchen, die für die Ausprägung der sozioökonomischen oder politisch-ideologisch-konfessionellen Konfliktlinien verantwortlich ist. Wehling 1991: 160

In einer Umgebung, die durch einen starken Antiparteienaffekt gekennzeichnet ist, der darüberhinaus durch Kumulieren und Panaschieren zum Tragen kommen kann, übernehmen letztlich die Parteien die Selektionskriterien der Wähler. Wehling 1991: 161

6. Schlußfolgerungen

Ich kann eigentlich nur ganz knapp den Worten aller hier zitierten Autoren anschließen: Es ist noch zu wenig systematisch und bundesweit vergleichend auf diesem Feld gearbeitet worden. Interessant finde ich noch, daß in Köln die folgenden Daten aus: Scheuch/Scheuch 1992: 76-77 eine weit übergroße Koalition regiert, ohne daß dort harte Cleavages überbrückt werden müßten (dafür ist die Wahlbeteiligung mit knapp 60% wohl zu niedrig), ohne daß die Parteien dem von Wehling strapazierten Antiparteieneffekt huldigen müßten (die überwiegende Mehrheit der Kölner ist für mehrheitsdemokratische klare Trennung von Regierung und starker Opposition), ohne daß eine süddeutsche Ratsverfassung zur Zusammenarbeit zwingen müßte, und ohne daß Köln sich als kleine Gemeinde bezeichnen könnte (immerhin Nummer 4 in Deutschland - ohne Stadtstaaten Nr.2). Vielleicht gibt es Parallelen mit Österreich, für das schon Lijphards Typologie ein Mischsystem "auswirft", dessen konsensualer Anteil nicht in der ewigen großen Koalition, sondern in der föderalen Struktur bestehen soll. Lijphard 1984: 219

7. Literatur

  HPkonflikt u. konsens – referat endfassung 07.16.93 07.02.93