+Malte Woydt
Konsensdemokratische und mehrheitsdemokratische
Systeme in der deutschen Kommunalpolitik
1. Einleitung
2. Politisches System Kommune
(?)
2.1. Was
ist Kommunalpolitik?
2.2. Gemeindeautonomie
2.3. kommunale
Konfliktpotentiale
3. Konsensdemokratie vs.
Mehrheitsdemokratie
4. Merkmale konsens- und
konkurrenzdemokratischer Kommunalpolitik
4.1 Freie
Wählergemeinschaften
4.2 Fraktionalisierung
4.3 Besetzung
der Verwaltungsspitze
4.4 Abstimmungsverhalten
in der Kommunalvertretung
5. Empirische Befunde und
Erklärungsansätze
5.1. Modernität
5.2. Kommunalverfassung
5.3.
Gemeindegröße
5.4. Sozialstruktur
5.5. regionale
"politische Kultur"
6. Schlußfolgerungen
7. Literatur
Die deutsche Kommunalpolitik unterscheidet sich traditionell deutlich von der Politik in den Ländern und dem Bund. Lijphards Beschäftigung mit der Scheidung westlicher Demokratien in konsens- und mehrheitsdemokratische Systeme läßt es interessant erscheinen, die deutsche Kommunalpolitik auf diese Unterscheidung hin zu untersuchen, um vielleicht stärker in das Wesen dieses viel zu wenig erforschten Politikbereiches einzudringen.
Ich versuche hier verschiedene kommunalpolitische Studien, die zu diesem Thema Aussagen treffen, zusammenzuführen. Zentral ist für diese Arbeit ein Aufsatz von Oskar W. Gabriel indem er ebenfalls versucht, Lijphards Typologie auf die Kommunalpolitik umzubrechen. Dies aber sehr knapp, und in einigen Teilen nicht ganz überzeugend, wie zu zeigen sein wird.
Die Arbeit läßt die ostdeutschen
Bundesländer ebenso außer Acht wie die Auswirkungen der neuen
Gemeindeordnung in Schleswig-Holstein und der Direktwahl des Bürgermeisters
in Hessen, da ich keine Untersuchungen aufgetan habe, die sich mit diesen
Entwicklungen bereits beschäftigt hätten.
In den alten Bundesländern gibt
es 8501 Gemeinden (Stand 1981). 1989 hatten 75,1% der Gemeinden weniger
als 5.000 Einwohner, in ihnen lebten 14,9% der Bürger. Insgesamt 98,3%
der Gemeinden weisen nicht mehr als 50.000 Einwohner auf, in ihnen leben
57,6% der Bevölkerung. Nur 33,4% der Bevölkerung wohnen in den
0,7 der Gemeinden, die über 100.000 Einwohnern haben.
Diese Verteilung fällt für die unterschiedlichen Flächenländer
sehr unterschiedlich aus.
Diese Arbeit beschränkt sich auf die alten Bundesländer, da ich
- wo schon für diese die Literaturlage relativ dürftig ist -
über ostdeutsche Kommunen keine Literatur gefunden habe.
Die Gemeinden können nur weniger
als ein Drittel ihrer Einnahmen selbst beeinflussen (in erster Linie Gewerbesteuerhebesatz
und Gebühren für kommunale Leistungen). Der größte
Teil ihrer Einnahmen sind Anteile von Bundes- und Landessteuern sowie zweckgebundene
Zuweisungen von Land und Bund. Zudem fließt der größte
Teil der Ausgaben entweder in die Ausführung von Landes- und Bundesgesetzen
gebunden oder in Gemeinschaftsaufgaben, die bei Einvernehmen der drei Ebenen
durch Mischfinanzierung ausgeführt werden.
Insbesondere die Kosten für die Sozialhilfe haben die Kommunen in
arge Finanznöte gebracht.
Dabei sind die Gemeinden auch noch im Gegensatz zu Bund und Ländern
per Gesetz zu einem ausgeglichenen Haushalt gezwungen. Die teilweise sehr
rigide Kontrolle der kommunalen Haushalte durch die Kommunalaufsicht der
Länder hat dazu geführt, daß die Gemeinden in den 80er
Jahren deutlich stärker gespart haben als Bund und Länder.
Dennoch ist Häußermann
nicht völlig zuzustimmen, wenn er meint, daß Funktionen und
Handlungsspielräume der Gemeinden kaum als autonom bezeichnet werden
könnten. Es bleibt ein Rest an kommunalem Entscheidungsspielraum,
zwei Drittel aller jährlichen öffentlichen Investitionen werden
durch kommunale Körperschaften getätigt.
Aufgrund der starken Verflechtung mit Land und Bund bei dennoch vorhandener
"Teilautonomie" könnte man sie als "Subsysteme" bezeichnen, die genügend
Merkmale eines politischen Systems haben, um die hier aufgeworfene Frage
nach Systemeigenschaften beantworten zu können.
Nach Maßgabe des Grundgesetzes
müssen die Gemeinden demokratisch organisiert sein. Die Gemeindeverfassungen
sind jeweils auf Länderebene einheitlich in Gemeindeordnungen geregelt.
In Westdeutschland gibt es vier Typen der Gemeindeverfassung.
Die aktuelle Entwicklung in klassischen
kommunalen Aufgabenbereichen wie Wohnen, Verkehr, Energie, Soziale Dienste
und Abfallentsorgung hat inzwischen ein Stadium erreicht, das diese Bereiche
als kritische Problemfelder ausweist. Die Problemverschärfung erzeugt
nach Holtmann einen steigenden Belastungs- und Erwartungsdruck für
kommunale Akteure, der Politisierungsschübe freisetzt.
Konflikte der "großen Politik" geraten so auf die kommunale Ebene
(auch schon allein durch die mit Bund und Land gemeinsam zu erledigenden
Gemeinschaftsaufgaben). Der Gesetzgeber hat z.B. im Sozialbereich den Gemeinden
kostenintensive Aufgaben verpflichtend auferlegt, ohne sie mit einer angemessenen
Finanzausstattung zu versehen. Die dadurch entstehende extreme Ressourcenknappheit
kann zu einer starken Polarisierung bei Kürzungsmaßnahmen führen.
Die Konfliktpotentiale in den Gemeinden sind so gering nicht, politische
Entscheidungen im Sinne der programmatisch bestimmte Auswahl unter Alternativen
kommen vor, Kommunalpolitik muß mitnichten reines Nachvollziehen
von Sachzwängen bedeuten.
Allerdings gibt es Untersuchungen,
die behaupten, daß die parteipolitische Konstellation im Gemeinderat
Ausmaß und Richtung der kommunalen Eigeninvestitionen allenfalls
graduell, am ehesten noch bei Verkehrsbaumaßnahmen, beeinflusse.
Wehling meint, es gäbe "nur
wenige" strittige inhaltliche Gebiete der Kommunalpolitik, über die
es zu Kontroversen und anschließenden Mehrheitsentscheiungen kommt:
Personalentscheidungen, Gewerbesteuerhebesätze, Umfang der gemeindlichen
Investitionsaufgaben, Privatisierung bisheriger Gemeindeaufgaben, Jugendhäuser
(wenn ja: selbstverwaltet oder nicht), Zuschüsse für Einrichtungen
und Veranstaltungen alternativer Gruppen und für Pro Familia, Einrichtung
der Stelle einer Frauenbeauftragten (wenn ja: haupt- oder nebenamtlich).
Hier aufkommende allgemeinpolitische und ideologische Argumentationen seien
vielfach nur Verbrämungen handfester lokaler Interessen.
Auf jedenfall Konfliktstoff genug, um die Vorstellung von kommunaler Selbstverwaltung
als "unpolitische Sachpolitik" zu widerlegen!
Mehrheitsdemokratie ist in dem betrachteten Modell die ideale Form für relativ homogene Gesellschaften in denen aufgrund einer gewissen Flexibilität der Wähler alle relevanten politischen Gruppen die Chance haben, die Macht zu erringen.
Konsensdemokratie wird von Lijphard
verstanden als adäquater Entscheidungsmechanismus für stark diversifizierte
Gesellschaften. Staaten mit strukturellen Minderheiten können nicht
nach dem Mehrheitsprinzip verfahren, da sie damit die Loyalität der
Minderheiten verlieren. Man ist sich der Konflikte und ihrer systemsprengenden
Kräfte bewußt, und "verordnet" sich als Alternative zum Bürgerkrieg
die Konsensdemokratie. Klassische Beispiele sind Österreich und die
Schweiz.
Ganz anders gelagert die deutsche Kommunalpolitik. Hier ist vom "traditionellen Selbstverwaltungsverständnis" die Rede, und der konsensdemokratischen Strukturen, die daraus resultieren. Dieses traditionelle Verständnis von Kommunalpolitik, man kann wohl schon von Selbstverwaltungsideologie sprechen, geht davon aus, daß es in der Kommunal"politik" nicht um politische Fragen, also die Wahl zwischen programmatisch begründeten Alternativen, sondern um objektiv entscheidbare Sachfragen ginge. Konflikte werden als nicht existent angesehen, konfliktbewußtes Verhalten als unbegründete Provokation aufgefaßt.
Niedriges Konfliktbewußtsein
führt also zu Konsensdemokratie, sehr hohes auch. Mehrheitsdemokratie
scheint nur mit einem "mittleren" Konfliktbewußtsein möglich.
Lijphard thematisiert die hier aufgeworfene Frage nach der Bewußheit
politischer Konflikte gar nicht, sie wird auch hier weitgehend außer
Acht gelassen.
Eine Kommune hat als Subsystem auf diese Merkmale höchst unterschiedlichen Einfluß, die institutionellen Rahmenbedingungen werden von außen durch die jeweils für alle Gemeinden eines Bundeslandes geltenden Gemeindeverfassungsgesetze festgelegt. Hier werden deshalb als Merkmale für die konsens- oder mehrheitsdemokratische Ausrichtung des lokalen politischen Systems nur diejenigen Lijphardschen "Symptome" aufgeführt, die nicht extern vorgegeben sind. Die restlichen "Symptome" lassen sich vielleicht als Ursachen festmachen, darauf wird weiter unten eingegangen.
Oskar W. Gabriel ist bei seinem Versuch, die Lijphardsche Typologie auf rheinland-pfälzische Kommunen anzuwenden, ähnlich verfahren, ohne darauf hinzuweisen. Die externen Merkmale der Gemeinden in seiner Untersuchung sind identisch, da sie alle dem rheinland-pfälzischen Kommunalverfassungsgesetz unterliegen. Er macht die Unterscheidung zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie auf kommunaler Ebene an folgenden Größen fest:
"(1) an der Bedeutung der explizit
antiparteilich agierenden Freien Wählergruppen,
(2) an der Fraktionalisierung des
lokalen Parteiensystems,
(3) an der parteipolitischen Zusammensetzung
der Verwaltungsspitze und
(4) am Abstimmungsverhalten der
Kommunalvertretung bei wichtigen kommunalen Entscheidungen."
Er hat damit die in Frage kommenden
Lijphardschen Merkmale
aufgegriffen:
(1) Machtkonzentration durch Einparteienkabinette oder kleinstmögliche Koalitionen gegenüber Machtverteilung durch große Koalitionen. Man kann untersuchen, ob mehr Parteien in den gewählten Positionen vertreten sind, als nötig (Gabriel-3) und ob bei wichtigen Abstimmungen häufig mehr Zustimmung erfolgt, als nötig wäre.
(2) Geringe Zahl von Parteien gegenüber großer Zahl von Parteien. Dies entspricht der Frage nach dem Ausmaß der Fraktionalisierung des lokalen Parteiensystem (Gabriel-2).
(3) eindimensionales Parteiensystem
(nur ein Cleavage) gegenüber mehrdi-mensionalem Parteiensystem (mit
mehreren Cleavages). Unter der Annahme, daß die Existenz von Parteien
hren Grund in Spaltungen der Gesellschaft hat, könnte man diesen Punkt
als in vorhergehenden inbegriffen verstehen.
Die Frage nach der Stärke Freier
Wählergemeinschaften hat Gabriel selbst hinzugefügt, ein entsprechendes
Merkmal gibt es bei Lijphard nicht.
Im Folgenden werden die einzelnen
Merkmale mit ihren Implikationen diskutiert.
Hierzu ist zweierlei zu sagen:
Der Anteil parteipolitisch klar zuordnenbarer
Wählergemeinschaften ist weit größer als hier mit "einzelnen
Fällen" suggeriert. Bei einer 1987 erstellten Umfrage von Helmut Köser
und Marion Caspers-Merk unter Mandatsträgern der Freien Wählergemeinschaften
in Baden-Württemberg gaben 50% der Befragten an, ihre Liste einer
Partei zuzurechnen (35% CDU, 4% SPD, 8% FDP, 3% GRÜNE). Weitere 4%
sahen in ihrer Liste die Institutionalisierung von Bürgerinitiativen.
Wobei auf der anderen Seite auch auf Parteilisten viele parteilose ungebundene
Kandidaten stehen.
Weder das Vorhandensein antiparteilicher Stimmungen in der Bevölkerung noch Forderungen nach einer Entpolitisierung lokaler Streitfragen müssen etwas über örtliche Konfliktregelungsmechanismen an sich aussagen; sie könnten natürlich eine Ursache für konkordanzdemokratisches Verhalten der Mandatsträger sein, was aber zu überprüfen wäre.
Die Stärke Freier Wählergemeinschaften läßt darauf schließen, daß das bundesweite Parteiensystem nur beschränkt als adäquater Ausdruck der lokalen Cleavages begriffen wird. Es ist aber ein Trugschluß, zu meinen, deshalb sei das lokale politische System nun per se unpolitischer oder konfliktärmer.
Freie Wählergemeinschaften nutzen
Defizite im System der "großen" Parteien. Das Vorhandensein etwa
einer der CDU nahestehenden FWG neben der örtlichen CDU-Liste wiese
z.B. zuallererst auf die Unfähigkeit des lokalen christdemokratischen
Millieus hin, einen für eine gemeinsame Partei nötigen Grundkonsens
zu finden. Wenn FWG in relativ homogenen kleinen Gemeinden am stärksten
sind, in denen bei Bundestagswahlen überwältigende Mehrhei-ten
für eine Partei erzielt werden, da die Gemeindebürger sich bezüglich
der bundesweiten Cleavage- und Parteistruktur alle gleich einordnen, zeigt
das eher einen Zwang zum Wettbewerb. Lokale an sich schwache Cleavages
führen zur Spaltung der örtlichen "Einheitspartei" und zu großer
Zersplitterung der politischen Kräfte.
Die Frage nach der Fraktionalisierung wirft für die Übertragung des Lijphardschen Modells auf die Kommunalpolitik Probleme auf, da sie in Abhängigkeit vom zugrundegelegten Konsensmodell wiedersprüchliche Erwartungen erzeugt. Die Vorstellung, eine große Zahl von Parteien hätte einen Zwang zu übergroßen Koalitionen und damit zur Konsensdemokratie zur Folge entspricht dem o.e. "politischen" Konsensmodell der Demokratietheorie, aber eigentlich nicht dem "unpolitischen" Konsensmodell der deutschen Kommunalwissenschaft.
So wäre die politische Konsensdemokratie Ergebnis einer starken Versäulung des Parteiensystems mit stabilen Wähleranteilen. Wenn ohnehin alle mitregieren, entfällt der Zwang zur Konzentration des Parteiensystems zwecks Mehrheitsgewinnung weshalb eine starke Zersplitterung des Parteiensystems entstehen könnte, wenn (ansonsten) innerparteiliche pressure groups ihre Interessen direkt im Kabinett vertreten wollen.
Die unpolitische Konsensdemokratie
fände ihren idealen Ausdruck in einem Einparteiensystem. Wo Konflikte
geleugnet werden, besteht auch kein Anlaß zur Gründung von konkurrierenden
Parteien.
Wehling führt als besonderes
mehrheitsdemokratisches Merkmal an, wenn Fraktionen generell geschlossen
abstimmen, und so Vorbesprechungen einen großen Einfluß auf
die Entscheidungsfindung haben.
Das bestätigt meine oben geäußerten Zweifel, daß dies beiden letzteren Variablen zwingend etwas mit der konsens- oder mehrheitsdemokratischen Ausrichtung des politischen Systems zu tun haben. Was die Ausführungen im Folgenden schwierig macht, ist, daß alle mit dem Thema beschäftigten Autoren (bis auf Gabriel angesichts dieser Ergebnisse) hier den Zusammenhang ähnlich sehen, wie nach der Lijphardschen und Gabrielschen Vermutung anzunehmen. Ich führe hier trotz dieses Widerspruchs die Erklärungsansätze für das Vorkommen von Konsendemokratie oder Mehrheitsdemokratie an.
Die benutzten Studien liefen unter
der Fragestellung, wo eine Parteipolitisierung der Kommunalpolitik zu finden
sei. Eines der Anzeichen einer zunehmenden Parteipolitisierung von Kommunalpolitik
wird in der Zunahme mehrheitsdemokratischer Verhaltensmuster gegenüber
konsensdemokratischen gesehen. Insofern bieten diese Studien Material
für die hier untersuchte Fragestellung, auch wenn sie in der Mehrzahl
aufgrund der Ausklammerung von Freien Wählergruppen aus dem zugrundegelegten
Parteibegriff ansonsten wenig hilfreich erscheinen.
Ich halte diese Begründung insofern für nicht stichhaltig, als die kommunale "unpolitische" Konsensdemokratie ja nicht aufgrund einer tiefgreifenden Spaltung, sondern aufgrund der deutschen Selbstverwaltungsideologie betrieben wird.
Gabriel kommt zu dem Ergebnis, daß
konsensdemokratische Führungs- und Entscheidungsstrukturen in Städten
mit hoher Dienstleistungszentralität und Bevölkerungskonzentration
etwas seltener aufträten als in den übrigen Gemeinden. Wesentlich
deutlicher beeinflusse die Modernität jedoch die Struktur des lokalen
Parteienwettbewerbs. Das Auftreten fragmentierter Parteienwettbewerbsstrukturen
ist demnach vor allem in Dienstleistungsgemeinden mit schwacher Bevölkerungskonzentration
aber einer wachsenden Bevölkerungszahl zu erwarten, bipolare Parteiensysteme
mit einem geringen Anteil der Freien Wähergruppen treten demgegenüber
in Städten mit einem schwach entwickelten Dienstleistungssektor, stagnierenden
bzw. schrumpfenden Einwohnerzahlen und einer starken Bevölkerungskonzentration
auf. Gabriel hat selber keine weitere Erklärung für diese Ergebnisse
parat.
Auch unabhängig von der eben
so ausgiebig zitierten Studie sprechen einige Anzeichen dafür, daß
mehrheitsdemokratische Strukturen ein Anzeichen von Modernität einer
Kommune sein könnten. Man könnte den Begriff viel einfacher auch
operationalisieren durch "Zunahme im Zeitverlauf" oder "Zustimmung ist
bei späteren Jahrgängen höher als bei früheren". Für
beide Operationalisierungen gibt es Belege.
Zwischen 1974 und 1984 hat in Rheinland-Pfalz
die Zahl von Städten, in denen sich die Mehrheitspartei exklusiven
Zugriff auf die zu besetzenden Posten gesichert hat, zuungunsten von Allparteienkoalitionen
signifikant zugenommen hat (wenn auch das Schwergewicht weiterhin deutlich
auf übergroßen Koalitionen lag).
Eine Befragung von Mitgliedern von
CDU-Oppositionsfraktionen in nordhrein-westfälischen Großstädten
ergab: "Die jungen akademisch gebileten Befragten erweisen sich als die
am stärksten parlamentarisch, parteienstaatlich [und damit mehrheitsdemokratisch]
orientierte Gruppe. Die Einstellungen erwiesen sich als unabhängig
von Geschlecht, Konfession, Beruf, Beschäftigungsverhältnis und
Einkommen."
Wehling meint, da die Befunde nicht
nur spärlich seien, sondern auch Zeitreihen fehlten, sei die Hypothese
von der zunehmenden "Parteipolitisierung" letztlich nicht zu überprüfen.
Holtmann sieht eine allgemeine Problemverschärfung
in kommunalen Aufgabenbereichen, wie Wohnen, Verkehr, Energie, Soziale
Dienste und Abfallentsorgung, die Konflikte anschwillen ließe und
damit mehrheitsdemokratisches Verhalten förderte.
"Bei der Planung von Mülldeponien, Kraftwerken und Müllverbrennungsanlagen
sind Standortkonflikte mittlerweile vorprogrammiert. Wo Anliegerproteste
aufbrechen, werden lokale Probleme in den Bereich öffentlicher Kontroversen
gerückt und dadurch als Sache politisiert."
Wehling schreibt, daß seit
der Wahl der Grünen in die Gemeinderäte die Zahl der einstimmigen
Beschlüsse abgenommen habe. Das spiegele aber weniger eine zunehmende
Parteipolitisierung wider als einerseits das Verständnis von kommunaler
Demokratie der Grünen (!) und andererseits deren Isolation und Ausschluß
von den Aushandlungsprozessen der anderen Fraktionen.
Gestützt werden diese Thesen
auch durch eine jüngere Untersuchung, in der die Ratsmitglieder aus
vier Städten nach ihren Ausgabepräferenzen gefragt wurden. Verglichen
mit früheren Erhebungen hat insbesondere die steigende Präsenz
postmaterialistischer Werte zur Folge, daß die im Rat vertretenen
Ausgabepräferenzen gegensätzlicher sind als früher.
Die Kommunalverfassungen von Hessen
und Schleswig-Holstein zwingen die parlamentarische Minderheit direkt in
eine kollegial angelegte Stadtregierung. Was keinen Druck zur konsensualen
Entscheidungsfindung erzeugt, sondern nur dazu führt, daß die
eigentlichen Entscheidungen weder in der Stadtregierung noch in den öffentlich
tagenden Ausschußsitzungen gefällt werden, sondern in den Vorbesprechungen
der Fraktionen.
2) Bürgermeisterverfassung: Der Bürgermeister ist zugleich Vorsitzender des Gemeinderates und seiner Ausschüsse sowie Leiter der Verwaltung. Er wird vom Gemeinderat gewählt. Die Bürgermeisterverfassung gilt in Rheinland-Pfalz und im Saarland.
Die Gabriel-Studie hat gezeigt, daß in Rheinland-Pfalz konsensdemokratische Strukturen zwar noch deutlich überwiegen, aber etwas am zurückgehen sind. Der Einfluß dieser Kommunalverfassung scheint gering zu sein.
3) Norddeutsche Ratsverfassung: Der Vorsitzende des Gemeinderates führt den Titel Bürgermeister, der Gemeindevorstand heißt Gemeinde- bzw. (Ober-)Stadtdirektor. Der Gemeindevorstand wird vom Rat gewählt. Die Norddeutsche Ratsverfassung gilt in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
Rüdiger Voigt beschreibt die
Realität des Nordrhein-Westfälischen Systems als Konkurrenz zwischen
dem Vorsitzenden der Mehrheitsfraktion im Rat, Gemeindedirektor als Verwaltungsspitze
und Bürgermeister als Ratsvorsitzender. "Gewinnen" tut derjenige,
der die besten Kontakte zu Landes- oder Bundesebene hat. Ein und dieselbe
Kommunalverfassung kann zu mindestens drei verschiedenen Machtkonstellationen
führen.
In kleinen Gemeinden führt es mangels kompetenter und einflußreicher
Persönlichkeiten unter den Ehrenamtlichen zu einer Dominanz des Gemeindedirektors,
was ähnliche Auswirkungen wie die süddeutsche Ratsverfassung
hat. In den großen Städten scheint es derart zum Machtkampf
zu reizen, daß klar mehrheitsdemokratische Tendenzen hervortreten.
Bei einer Befragung des Innenministers
von Nordrhein-Westfalen gaben 58,7% aller antwortenden Ratsmitglieder an,
"die Beratungen seien im Rat und in den Ausschüssen nur noch Formsache,
weil die Vorentscheidungen bereits in den Fraktionen getroffen worden seien."
4) Süddeutsche Ratsverfassung:
Der Bürgermeister als Vorsitzender des Gemeinderates und Leiter der
Verwaltung wird direkt vom Volk gewählt. Die Süddeutsche Ratsverfassung
gilt in Baden-Württemberg und Bayern.
Die Baden-Württembergische Gemeindeordnung
sieht vor, daß die Fraktionen in der Reihenfolge ihrer Stärke
ein Präsentationsrecht für die Beigeordneten haben.
Sie zwingt die Parteien also unter Führung des von ihnen unabhängigen,
da direkt gewählten Bürgermeisters stark in konsensdemokratische
Arbeitsformen. Ein direktgewählter Bürgermeister, der durch Parteipolitisierung
der Personalpolitik auffällt, bekommt den Antiparteienaffekt der Bürger
bei einer anstehenden Wiederwahl negativ zu spüren.
"Unpolitische, Parteipolitik gegenüber
feindlich gesonnene Selektionskriterien der Wähler können dann
besonders gut zum Zuge kommen, wenn eine Bindung an Listen und die Reihenfolge
auf ihnen nicht besteht: bei der Möglichkeit zu panaschieren und zu
kumulieren [wie in Baden-Württemberg]." Diese Möglichkeit hat
auch weitreichende Auswirkungen auf den Nominierungsprozeß der Parteien
indem diese vermehrt örtliche Honoratioren aufstellen.
Erklärungen für diesen
Befund sind: Mit zunehmender Gemeindegröße muß der Wähler
von der Orientierungsfunktion der Parteien Gebrauch machen, da er das Kandidatenangebot
nicht überschauen kann. Mit zunehmender Größe der Räte
werden parlamentarische Prozeduren zunehmend funktional, deren Handhabung
erleichtert wird durch ein mit der Ortsgröße zunehmendes mehrheitsdemokratisches
Selbstverständnis der Ratsmitglieder.
Im Gegensatz dazu gilt, je kleiner eine Gemeinde ist, desto homogener und
konfliktfreier.
In kleinen und mittleren Gemeinden
muß man potentiellen Kandidaten eher nachlaufen, als daß man
unter einem größeren Angebot auswählen könnte.
Daraus resultiert dann eine für konfrontative Politik zu geringe Geschlossenheit
der Fraktionen.
Universitätsstädte stellen
nach Wehling einen Sonderfall dar. Wegen der mangelnden lokalen sozialen
Verankerung der Universitätsangehörigen als Ratsmitglieder und
deren dadurch bedingten geringeren Rücksichtnahmeerfordernis könnten
Meinungsverschiedenheiten härter ausgetragen werden als andernorts;
die akademische Ausbildung begünstige zudem die Rückbindung an
übergeordnete politische Positionen.
Die Ursachen für unterschiedlich
ausgeprägte Konfliktlinien in verschiedenen Regionen sind in der jeweiligen
territorialen oder lokalen Geschichte zu suchen, die für die Ausprägung
der sozioökonomischen oder politisch-ideologisch-konfessionellen Konfliktlinien
verantwortlich ist.
In einer Umgebung, die durch einen
starken Antiparteienaffekt gekennzeichnet ist, der darüberhinaus durch
Kumulieren und Panaschieren zum Tragen kommen kann, übernehmen letztlich
die Parteien die Selektionskriterien der Wähler.
HPkonflikt u. konsens – referat
endfassung 07.16.93 07.02.93