Malte Woydt

Auf in den Sozialismus!

Vortrag für den DIES Academicus an der Uni Mannheim 1996

Wir haben in Deutschland jetzt offiziell 4,5 Mio. Arbeitslose. In Wirklichkeit natürlich noch viel mehr, da viele - gerade Frauen - aus den Statistiken herausmanipuliert werden, die sich schon gar nicht mehr melden, weil sie jede Hoffnung aufgegeben haben.

Die Globalisierung bietet die Chance, endlich den Denkfehler "nationaler Wohlfahrtsstaat" zu berichtigen.

Ich verstehe überhaupt nicht, warum hohe Löhne in letzter Zeit nur als Investitionshindernis betrachtet werden. Was hat denn das Ziel von Wirtschaftspolitik zu sein, wenn nicht die Erhöhung der Löhne? Je höher die Einkommen, desto erfolgreicher die Wirtschaftspolitik. Man kann doch nicht ernsthaft den Wohlstand mehren wollen, indem man die Löhne kürzt! Aus der Sicht des Arbeitgebers, der vor der Entscheidung steht, entweder höhere Gewinnabschöpfung für sich selbst oder Löhne für seine Mitarbeiter, ist die Folgerung natürlich logisch. Aber es ist doch himmelschreiend perfidie, wenn dieses egoistische Einzelinteresse für das Gemeinwohl ausgegeben wird.

Unser Wohlstand basiert doch zu einem Gutteil auf der internationalen Arbeitsteilung. Das hohe Einkommensniveau in Deutschland - das für sich natürlich zu begrüßen ist - stützt sich auf drei Säulen:

1. übernehmen zunehmend Maschinen die "unproduktiven" Arbeiten,
2. steht am Anfang des Wirtschafts-"kreislaufes" immer noch der kostenlose Bezug natürlicher Rohstoffe,
3. haben wir in den letzten fünfzig Jahren auch deshalb einen so großen Wohlstand erreicht, weil unproduktivere, schlechter bezahlte Arbeitsplätze exportiert werden konnten - das ist doch kein Wohlstandshindernis, es ist eine Wohlstandsvorraussetzung! Wie sähe es in Deutschland aus, wenn die Billiglohn-Textilarbeitsplätze Malaysias hier eingerichtet werden müßten.
Die sogenannte "Globalisierung" ist überhaupt nichts Neues. Ihre negativen Auswirkungen mögen für uns neu sein, aber doch nicht für Nicaragua, Nigeria oder die Philippinen! In marxistischer Terminologie könnte man sagen, der Neoimperialismus schlägt zurück. Im Übrigen hatten wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits die gleichen Probleme in Deutschland, wir waren wirtschaftlich der englischen Übermacht ausgeliefert, haben uns dann ebenso heraufgearbeitet, wie heute die asiatischen "Tiger".

Aller Vorraussicht nach wird unser Lebensstandard sinken müssen. Die südostasiatischen "Tiger", deren Zahl ständig zunimmt, haben Methoden entwickelt, einen wachsenden Teil vom Kuchen einzukassieren. Dadurch tun sie nichts anderes, als das Herannahen der Grenzen des Wachstums für uns zu beschleunigen. Die billigen Ressourcen werden jetzt nicht mehr nur aus physischen Gründen knapp, sondern auch wegen dieser neu aufgetretenen Wettbewerber.

Es entspricht volkommen meinen politischen Zielvorstellungen, wenn in Indonesien oder Ungarn Arbeitsplätze geschaffen werden. Als Sozialist bin ich für eine möglichst gerechte Verteilung des Wohlstandes auf dieser Welt. Wir müssen endlich heraus aus unserer nationalen Beschränktheit und zurück zu internationalistischen Ansätzen.

Die SPD ist unter Schröder, Lafontaine und Scharping aus Bequemlichkeit und Opportunismus wieder auf den alten Wachstumspfad zurückgekehrt, den sie unter denselben Leuten in den achtziger Jahren schon einmal verlassen hatte. Das Berliner Programm der SPD enthält doch alle wesentlichen Erkenntnisse bereits. Warum schwenken diese Leute jetzt ein?

Entweder sie haben sich tatsächlich von der CDU überzeugen lassen, daß endloses Wachstum möglich und sinnvoll sei. Oder sie spekulieren auf die taktische Überlegung, daß es einfacher sei, jetzt dem im alten Denken befangenen Volk nach dem Munde zu reden, um damit an die Regierung zu kommen, und dann eine vernünftige Politik durch die Hintertür einzuführen. Die Strategie wäre zum Scheitern verdammt. Man kann nicht jahrelang die eigenen Anhänger für die eine Politik mobilisieren, um dann Zustimmung für die andere zu erwarten. Ökologische Wirtschaftspolitik braucht lange Überzeugungsarbeit.

Die dritte Variante hätte einiges für sich: Vielleicht haben Lafontaine und Co. ja überhaupt keine eigenen Überzeugungen, sie hängen jetzt ihr Fähnchen in den Wind, wie sie es schon in den achtziger Jahren in den damals anderen Wind gehängt haben. Ich tippe allerdings - viel fataler - auf die vierte Variante, eine typische Politikerkrankheit: Die alltägliche Schizophrenie zwischen einem vorhandenen vernünftigen Bewußtsein und einer tatsächlich irrationalen Politik aus Bequemlichkeit, Zynismus, Resignation und Egoismus.

Bei den Grünen ist die Abkehr von globalökologischer Wirtschaftspolitik (noch?) nicht ganz so tiefgreifend wie in der SPD-Führung. Hier ist mehr ein künstlicher Gegensatz zwischen stark symbolisch aufgeladener Kommunalpolitik und den Kompromißzwängen der Regierungsbeteiligung zu beobachten.

Die kommunal- und landespolitischen Erfolge von SPD und Grünen sind die Ursache dafür, daß die globale Perspektive aus den Augen verloren wurde. Das hat Jutta Dittfurth schon richtig vorausgesehen. Die konservativ-wirtschaftsliberale Politik der Bundesregierung, der Europäischen Kommission und der Weltwirtschaftsorganisationen steckt so den Rahmen für den grünen Alltag.

Natürlich ist es sinnvoll, die innerhalb dieses Rahmens möglichen Spielräume zu nutzen. Lokale Wirtschaftsförderung und die Umstellung der Wirtschaft auf umweltfreundlichere Produkte sind ja ganz nett, können aber am Problem Arbeitslosigkeit nichts nennenswert ändern. Niemand glaubt doch im Ernst, mit Wachstumspolitik über 4 Mio. Arbeitsplätze schaffen zu können! Und das ist ja nur der deutsche Bedarf. In den anderen europäischen Ländern um uns herum ist der Bedarf an Arbeitsplätzen noch viel höher. Ganz zu schweigen von Afrika oder so. Lokale, regionale oder nationale Wirtschaftsförderung kann die Verteilung der Arbeitsplätze beeinflussen, ist deswegen ja auch notwendig. Aber an den Kern des Problems kommt man damit nicht heran.

Man darf das kommunalpolitische Kleinklein nicht mit der höheren Ebene verwechseln. Der Koalitionsstreit in NRW ist symptomatisch für diesen Fehler. Ob In Dortmund der Flughafen ausgebaut wird oder nicht, ist für den Welt-Ökohaushalt ebenso belanglos wie für den von Nordrhein-Westfalen. Hier haben wir eine verhängnisvolle Verknüpfung von kommunaler und symbolischer Politik. Natürlich ist es für den einzelnen Menschen richtig, mit dem ökologischen Umdenken vor der eigenen Haustür zu beginnen. Natürlich ist es richtig, den Ausbau eines Flughafens zu bekämpfen, um damit Energieverschwendung und Luftverschmutzung zu bekämpfen. Aber doch nicht um den Preis, daß eine CDU-geführte Landesregierung dann sofort mit dem Bau von zehn Flugplätzen beginnt!

Alles, was jetzt noch an Wirtschaftswachstum drin ist, beruht auf der effizienteren Ausnutzung der natürlichen Ressourcen. Eine Verschwendung von Luft, Wasser und so weiter, die zum Produkt überhaupt nichts beiträgt, ist offensichtlich überflüssig.

Die Reichen werden immer Auto fahren. Die Ölknappheit wird irgendwann kein Benzin mehr für 5 Mark den Liter auf dem Markt erlauben, aber wer 50 Mark für den Liter bezahlen kann, wird immer welches gefördert und produziert bekommen. Aus Permafrostböden oder wo auch immer.

Johano Strasser hat bereits in den siebziger Jahren als Reaktion auf die "Grenzen des Wachstums" darauf hingewiesen, daß da in erster Linie ein soziales Problem auf uns zurollt. In diesem System ist nie umverteilt worden. Nie haben die Reichen etwas abgeben müssen, um den Ärnmeren einen bescheidenen Wohlstand zu gewähren. Unser Sozialsystem beruht auf dem simplen Prinzip, die Wachstumsmasse gerechter zu verteilen, als das vorhandene Vermögen. Ohne Wachstum gibt es nach diesem Prinzip auch nichts zu verteilen. "Negativwachstum" schadet in erster Linie denjenigen, die nichts haben. Abgesehen davon kann man den Sozialstaat aber auch schon ohne "Nullwachstum" ruinieren. Das ist die Politik der Bundesregierung. Niemand zwingt die Regierung dazu, von oben nach unten umzuverteilen. Seit die Unternehmer gemerkt haben, daß es netter ist, die Wachstumsmasse mit ihren Maschinen statt mit irgendwelchen Arbeitnehmern zu teilen, sind Arbeitsmarkt und der mit dem Arbeitsmarkt verknotete Sozialstaat vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt worden. Das heißt schon trotz Wachstum findet eine Umverteilung von unten nach oben statt.

Oberflächlich betrachtet profitiert natürlich in erster Linie das Kapital von der "Globalisierung". Man kann es überall beobachten: Die sind prima in der Lage, Städten wie Staaten ihre Standortlogik aufzuzwingen und sie gegeneinander auszuspielen, die in einen ruinösen Wettbewerb zu treiben. Die Liberalisierung des Geldverkehrs ermöglicht darüberhinaus eine weitgehend steuerfreie Kapitalvermehrung.

Nur, das Schöne dabei ist: Die Erde ist endlich. Runter vom Globus können die nicht mit ihrem Geld. Sie hoffen natürlich, Staaten und Völker in frühkapitalistischer Manier endlos gegeneinander ausspielen zu können. Wie im 19. Jahrhundert. Aber genau da macht die Paralelle Hoffnung: Der nationalstaatliche Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war zu Zugeständnissen gezwungen. Eine starke nationale Arbeiterbewegung hat den nationalen Sozialstaat erkämpft. Warum solte das nicht auch global möglich sein?

Da kommt nun die Debatte um die sogenannten "Asian Values" ins Spiel. Angeblich wollen Asiaten keinen sozialen Ausgleich. Asiaten lassen sich gerne ausbeuten, heißt das Motto. Aber stimmt das? Nicht nur, daß Japan genauso wie wir Arbeitsplätze an Niedriglohnländer verliert, ebenso wie übrigens auch bereits Korea und Taiwan Arbeit an die nächste Reihe, bestehend aus Thailand, Malaysia usw. abgeben. Nein, die Japaner nehmen tatsächlich inzwischen mehr Urlaub als noch vor zehn Jahren. Und selbst Malaysia, dessen Präsident sich besonders stark hervortut mit "Asian Value"-Propaganda, richtet soziale Sicherungssysteme ein.

Der internationale Neoliberalismus steht auf tönernen Füßen. Es ist allein eine Frage der Zeit, bis der Weltsozialstaat kommt. Aufgabe nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik ist es, die Einbußen, die wir notwendigerweise erleiden werden, möglichst gerecht zu verteilen. Und auf supranationaler Ebene alles zu unternehmen, dem Kapital eine wirksame staatliche Gegenmacht entgegenzusetzen.

Die europäische Sozialcharta ist noch ein zartes Pflänzchen. In Deutschland mit seinem hochentwickelten Sozialsystem kann sie zwar keine großen Verbesserungen bringen, aber sie hat schon jetzt den Erfolg, Länder wie Portugal und Irland zu eienr sozialeren Politik zu zwingen.

Ökologie- und Sozialpolitik sind ein und dieselbe Seite der Wirtschaftspolitik. Umweltpolitik ist nichts anderes, als das System des Sozialstaates auf die Zukunft zu übertragen.