Malte Woydt:
Der weiße Marsch
Wer weshalb warum?
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Der
weiße Marsch im Herbst 1996 war vermutlich die größte
Demonstration in der Geschichte Belgiens. 500.000 Menschen oder 5% der
belgischen Bevölkerung in der Brüsseler Innenstadt. Medien und
Politiker überschlugen sich mit den unterschiedlichsten Vermutungen
über Herkunft und Motivation der Demonstranten. Wer war da auf der
Straße?
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Benoit
Rihoux von der Universität Louvain-la-Neuve und Stefaan Walgrave von
der Universität Antwerpen haben hunderte von Fragebögen verteilt
und ausgewertet. Die Ergebnisse ihrer sozialwissenschaftlichen Studie haben
sie in leicht verständlicher Form als Paperback auf den Markt gebracht:
"L'année blanche. Un million de citoyens blancs: Qui sont-ils? Que
veulent-ils?", EVO Brüssel, 1997.
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Das
Buch zerfällt in zwei Teile. Zum einen wird anhand einer Presseauswertung
sowohl die Affäre Dutroux als auch die Entwicklung der weißen
Bewegung nachgezeichnet. Den zweiten Teil nehmen die Ergebnisse der Befragung
ein. Die Autoren haben sowohl die große Masse der Demonstranten als
auch den harten Kern der Organisatoren untersucht auf soziale Herkunft,
Motive und Ziele ihres Engagements.
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Es
ist leicht lesbar und äußerst übersichtlich. Die Bewertung
der Ergebnisse aus der Hand einiger Mitglieder Weißer Kommittees
im Nachwort ergibt eine interessante Ergänzung. Ich hätte mir
allerdings gwünscht, daß bei den ausführlichen Statistiken
über die Zahl der kleineren Protestaktionen im Land nicht nur an versteckter
Stelle erläutert würde, daß man sich allein auf die Auswertung
von Montagszeitungen beschränkt hat, und warum. Ärgerlich auch,
daß bei den zahlreichen Diagrammen grundsätzlich jeweils die
Bezugsgrößen "vergessen" wurden. Das macht eine ganze Reihe
von ihnen aussagelos.
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Benoit
Rihoux stand der Brüssel-Rundschau freundlicherweise für ein
paar Fragen zu den Ergebnissen der Untersuchung zur Verfügung.
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Benoit
Rihoux, gab es große Überraschungen, nennenswerte Unterschiede
zwischen der öffentlichen Wahrnehmung der weißen Bewegung und
den Ergebnissen Ihrer Studie?
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Ziemlich
schnell stellte sich heraus, daß sich die Medien zu stark auf den
einen großen weißen Marsch in Brüssel konzentriert haben.
Es gab unzählige kleinerer Demonstrationen, und nicht nur Demonstrationen
sondern auch Blumenniederlegungen und kleine Gedenkstätten. Insgesamt
haben sich bestimmt 700.000 bis 1 Mio. Menschen an den Aktionen beteiligt.
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Wo
kommen sie her, die "Weißen Marschierer"?
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Keines
der Klischees aus den Medien ist ganz korrekt. Die Teilnehmer kamen aus
allen sozialen Milieus, das stimmt. Aber die Mittelschicht ist schon deutlich
überrepräsentiert, es waren beispielsweise auch überdurchschnittlich
viele Frauen und viele Eltern.
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Was
sind ihre Motive?
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Es
ist nicht leicht festzustellen, was sie wollen. Klar ist eigentlich nur,
was sie nicht wollen. Sie sind sehr mißtrauisch gegenüber allen
Institutionen. Allein König und Schule werden positiv bewertet, alle
anderen Institutionen negativ oder sehr negativ. Man kann drei Gruppen
unterscheiden. Die große Mehrheit antwortet nur sehr allgemein, um
"die Dinge" zu verändern, um Solidarität zu üben, zu zeigen
daß man betroffen ist, und nicht präziser. Man spricht natürlich
viel über die Kinder und die Eltern. Ungefähr ein Drittel spricht
über Politik und Justiz, äußert noch einmal allgemeine
Meinungen, um "die Politik zu verändern". Nur ein Zehntel spricht
über Protest, benutzt stärkere Worte gegen die Justiz, alles
sei korrupt, "alle müssen weg". Zusammengefaßt: Eine gute demokratische
Mischung, praktisch niemand extrem rechts, wie teilweise in den Medien
behauptet wurde.
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Die
Allgemeinheit der Zielvorstellungen ist ein großes Problem. Eine
Bewegung kann keinen Einfluß gewinnen, wenn sie es nicht schafft,
konkrete Forderungen aufzustellen. Die Parteien haben zu wenig Kontakt
mit der Bevölkerung, um die Forderungen umzugießen, für
die Gewerkschaften gilt dasselbe. Die weißen Kommittees sind noch
nicht organisiert genug um das zu tun. Man braucht Zeit. Allerdings ist
diese Bewegung erst weniger als ein Jahr alt, da ist das normal.
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Anläßlich
von "einem Jahr nach dem weißen Marsch wurde in der Presse geäußert,
die weiße Bewegung sei am Ende. Was halten Sie von der Einschätzung?
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Das
hängt davon ab, was man unter Stärke versteht. Die große
Mobilisation ist sicher vorüber. Das bedeutet aber nicht, daß
es mit der Dynamik am Ende ist. Die mehr Aktiven müssen das jetzt
bündeln und werden damit vielleicht mehr Einfluß ausüben
als die großen Massen. Wenn man die Kommittes betrachtet, so haben
sie natürlich im Moment einige Probleme, sind aber noch lange nicht
weg vom Fenster. Heute im November 1997 gibt es 140 Kommittees, davon sind
100 stark genug, um konkrete Arbeit zu leisten, und noch eine für
eine längere Periode zu arbeiten. Die Comités blancs müssen
bis März 98 zwei oder drei größere Sachen machen sonst
werden sie nicht überleben, beispielsweise einen Kongreß im
Dezember oder Januar. Am Ende fallen die Medienkontakte weg.
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Dirk
Schümer hat in seinem deutschen Buch gemeint, die weißen Märsche
hätten es Dehaene und Co. sehr einfach gemacht. Durch die Vagheit
ihrer Forderungen sei es für die Politiker einfach, untätig zu
bleiben...
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Das
ist vielleicht leichter für die Politiker, aber für die Gesellschaft
wäre es natürlich besser, wenn der demokratische Druck aufrechtzuerhalten
wäre. Das wird nicht leicht, weil die belgische Gesellschaft sehr
fragmentiert ist. Es gibt nicht viele Organisationen im Land, die es schaffen,
Gruppen quer zur ganzen Gesellschaft zu vereinen. Die Familienliga schafft
das beispielsweise nur mit einem äußerst rigiden Quotensystem,
das sie sehr unbeweglich macht. Ob die weißen Kommittees einen anderen
Weg finden?
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Wie
wurde ihre Studie aufgenommen?
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Wir
haben noch keine Zahlen, aber es wurde in allen größeren Orten
gekauft. Die Zeitungen sind insgesamt positiv, zwei oder drei eher kritische
Artikel. Man wirft uns vor, wir seien zu paternalistisch. Dabei ziehen
wir nur Schlüsse aus den Parallelen mit den sogenannten Neuen Sozialen
Bewegungen. In der belgischen Geschichte war es für eine Bewegung
nie möglich zu überleben ohne Organisation und klarere Ziele.
Aus der Politik kamen bisher keine Reaktionen. Aus der Bewegung selbst
wurde kritisiert, wir konzentrierten uns zu stark auf das Zentrum, beachteten
die Basis zu wenig. Da haben sie Recht, aber uns fehlte einfach die Zeit.
Es gab Konflikte, zwischen lokalen und nationalen "Eliten", bei denen wir
erstere zu wenig beachtet haben.
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Gab
es Unterschiede zwischen Wallonen und Flamen?
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Die
Natur der Sache war eine andere in beiden Landesteilen. Die Eltern sind
anders, Die Opfer sind anders. Wir haben gerade mit einer neuen Untersuchung
begonnen, um zu sehen, ob die Medien, ob sie derselben Logik folgten. wir
glauben, daß insbesondere die Dynamik der Berichterstattung sehr
unterschiedlich war. Das würde viele Unterschiede erklären.
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Schümer
beschreibt die Marschierer als "unbescholtene Bürger", die zum ersten Mal
auf die Straße gehen. Trifft das zu? Wer sind die Weißen Bürger?
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Stimmt
nicht. Der Anteil von "Marschieren" die niemals zuvor auf der Straße waren,
ist kleiner als in der Bevölkerung, aber größer als bei früheren
sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung zum Beispiel. Insgesamt sind sie
deutlich aktiver als der Schnitt, insbesondere sind sehr viele in Vereinen aktiv.
Es gibt natürlich keine Daten über die "Anständigkeit" der Teilnehmer.
Aber es trifft sicher nicht zu, daß das alles besonders gute Menschen
wären. Wir glauben nicht, das sich viele Veränderungen in Wahlen ergeben
werden. Der Klientilismus geht weiter. Das verändert sich nicht. Das ist
halt die fundamentale Ambiguität der Belgier. Sie müßten sich
eigentlich selber verändern, schimpfen aber lieber nur über die Politik.
Der Bürger hat auch einen Teil der Verantwortung für den Zustand des
Staates. Das ist nicht populär und damit der Kern des Problems.
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Benoit RIHOUX und Stefaan WALGRAVE: L'année blanche. Un
million de citoyens blanc: Qui sont-ils ? Que veulent-ils ? Brüssel: EVO 1997.
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Brüssel-Rundschau,
28.11.97
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(c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau
1997
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