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Malte Woydt:
Das Verschwinden einer europäischen Nation?

...... Die überwältigende Mehrheit der Belgier möchte weiter zusammenleben. Flämischer wie wallonischer Nationalismus gehen zurück. Die Wallonen verarmten nach einer Trennung und den Flamen könnte nichts Schlimmeres passieren, als mit ihren anachronistischen Nationalisten alleingelassen zu werden. Wenn diese Thesen Claude Demelennes allgemein akzeptiert wären, müßte er sie nicht mehr äußern.
...... Tut er aber. In dem Buch "Belgique, disparition d'une nation européenne?" - auf deutsch "Belgien, Verschwinden einer europäischen Nation?". Der Sammelband umfaßt 19 Beiträge zum Thema, die auf einem Diskussionsforum der "Etats généraux de l'ecologie politique" im letzten Jahr gehalten wurden.
...... Jean-Marie Lacrosse meint, die Krise Belgiens sei eine direkte Folge der abnehmenden Bedeutung der Kirchen. 1830 hatte sich Belgien schließlich als katholisches Land von den protestantischen Niederlanden abgespalten. Die Kirchen hätten schon viele Hochs und Tiefs erlebt, ihre Bedeutung werde wieder steigen, und sich mit ihnen die Einheit Belgiens wieder festigen.
...... 97% der Flamen wählen ihre Parteien nicht wegen ihrer Haltung im Konflikt mit den Frankophonen sondern aus anderen Gründen, springt ihm Wilfried Bervoets bei. Medien und Politik kochten hier ein Thema wieder und wieder hoch, daß für die Bevölkerung gar nicht von Interesse sei. 1960 hätten die Flamen einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Weltsprache Französisch gehabt, die Wallonen gegenüber der boomenden flämischen Wirtschaft. Also gründete man "Gemeinschaften" für Kultur- und Sprachpolitik und "Regionen" für Wirtschaftsfragen. Inzwischen sei das Französische durch das Englische verdrängt worden und die flämische Wirtschaft zeige alle Tendenzen, der wallonischen in die Krise nachzufolgen. Spätestens dann werde man wieder zusammenfinden.
...... Nach Frie Leysen ist es gerade die Methode, Konflikte nie durch Mehrheitsentscheidungen sondern immer durch Ressourcenteilung zu lösen, die die Belgier eine. Und wenn sie dann endlich Belgien aufgeteilt hätten, bliebe ihnen nichts anderes übrig, als ihre Regionen zu zerteilen, danach die Provinzen, die Gemeinden... Angesichts europaweit wachsendem Rassismus könnten die Belgier dann endlich beweisen, daß ihre Hauptstadt zurecht "Hauptstadt Europas" hieße.
...... Mahfoud Romdani, der erste Belgier in seiner Familie, sieht sich unterdessen als Belgier und könnte er wählen, würde er von allen Nationalitäten der Erde wieder keine andere als die belgische wählen.
...... Auch Albert Faust blickt über den Tellerrand. Die Slowakei habe sich gegen den Willen von 84% ihrer Bevölkerung von Tschechien getrennt. In Belgien diskutiere und verhandle man immer bis zum Umfallen, das sei im europäischen Vergleich doch schon etwas. Aber auf jeden Fall bedürfe eine Teilung eines Referendums, schon um den slowakischen Fehler nicht zu wiederholen. Für ihn als Gewerkschafter sei die vordringliche Frage sowieso, starke europäische Zusammenschlüsse auf die Beine zu stellen.
...... Für Simon Grenzmann stellt sich die Teilungsfrage dagegen schon in naher Zukunft. Für alle flämischen Entscheidungsträger habe Flandern Vorrang vor Belgien. Und sei es nicht paradox, daß mit den Frankophonen ausgerechnet diejenigen für die Einheit des Landes einträten, die sich deutlich weniger Mühe gäben, die andere Landessprache zu lernen?
...... Philippe Destatte beobachtet, daß in Flandern die Begriffe Frankophonie und Wallonie wie austauschbar benutzt würden. Flämische Schulkinder bekämen heute den Eindruck, daß nicht eine französisch sprechende flämische Oberschicht, sondern Wallonen ihre Vorväter unterdrückt hätten. Flämische Zeitungen machten ihren Lesern weis, daß jeder flämische Haushalt alle zwei Jahre mit seinen Steuern einem wallonischen Haushalt einen Golf finanziere. Wenn die Flamen mehrheitlich wirklich so etwas glaubten, sollten sie halt gehen. Die Sozialversicherung würde für die Wallonen etwa auf französisches Niveau absinken, aber damit werde man leben.
...... Für Jacky Moreal ist klar, daß die Flamen im Gegenzug für eine von ihnen durchgedrückte Teilung auf Brüssel verzichten müßten. In den Facilitäten-Gemeinden der Brüsseler Peripherie sollten darüber Referenden abgehalten werden, wo man hinwolle. Brüssel und die Wallonie würden zusammenbleiben. Schon jetzt sei die ihnen gemeinsame "französische Gemeinschaft" deutlich lebendiger als die getrennten "Regionen", sie werde überleben und die regionalen Kompetenzen aufsaugen.
...... Philippe Destatte merkt dazu an, daß es seit 50 Jahren kein einziges Beispiel für eine solidarische Haltung Brüssels gegenüber der Wallonie gegeben habe. Und in einem Land, in dem die Minister Gefangene ihrer Parteivorsitzenden seien, werden das liberale Brüssel und die sozialistische Wallonie nicht zusammenfinden. Andererseits, wie in Flandern die Liberalen nur deshalb für eine Loslösung von der Wallonie seien, weil sie auf diese Weise ihren sozialistischen Koalitionspartner loswürden, könnte sich eine befreite Wallonie endlich der wirtschaftsliberalen flämischen Ideen entledigen und eine Politik machen, wie sie von ihren Bürgern gewünscht werde.
...... Man solle endlich mit dem inhaltsleeren Herumbasteln und -klempnern an Institutionen aufhören, mahnt Bernadette Wynants. Es werde Zeit, daß man sich damit beschäftige, wie man leben wolle um eine mögliche wallonisch-brüsseler Allianz mit einem politischen Projekt zu füllen.
...... Claude Semal faßt bündig zusammen, was die Belgier noch zusammenhält - in dieser Reihenfolge: 1. Die Staatsschulden (über deren Aufteilunng man sich nie einigen könne); 2. Die Krone; 3. Die Sozialversicherung; 4. Der Weiße Marsch; 5. Die roten Teufel. Er bezweifelt stark, daß das ausreicht. Inzwischen ist ja Punkt 3 auch schon stark unter Beschuß durch flämische Politiker. Zu Wallonen und Brüsselern meint er, für erstere seien letztere nichts als Bastarde - halb Pariser, halb Flamen.
...... Als Künstler beklagt er sich insbesondere darüber, daß es angesichts fehlendem Kulturabkommen zwischen Flandern und der "französischen Gemeinschaft" für beide Seiten billiger sei, eine japanische Musikgruppe einzuladen, als eine aus dem jeweils anderen Landesteil!
...... Flamen und Frankophone erfahren weniger und weniger aus den Medien über den jeweils anderen, und die Wallonie verschwindet vollends im Schatten Brüssels. Mit diesem Band bekommt man eine gute Idee, welche Gedanken man sich auf frankophoner Seite zur Teilung macht. Er ist außerordentlich gut und flüssig lesbar.

...... Belgique, disparition d'une nation européenne?. Brüssel: Edition Luc Pire 1997
...... Brüssel-Rundschau, 1.5.98
...... (c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau 1998

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