Malte Woydt:
Die Kinderfänger?
Ein deutsches Buch über Dutroux und Co.
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Dirk Schümer
packt einen gleich auf der ersten Seite, und läßt einen lange
nicht mehr los. "Die Kinderfänger" ist das (bislang?) einzige Buch
auf Deutsch über die Dutroux-Affäre, und spannend geschrieben.
Der Untertitel verspricht ein "belgisches Drama von Europäischen Dimensionen".
Um es gleich vorwegzunehmen: Das mit dem europäisch hätten sie
sich sparen können, wird nirgendwo schlüssig erarbeitet. Aber
zurück zu Belgien.
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Der Autor hat
im Laufe der vergangenen anderthalb Jahre als Reporter häufig dieses
Land besucht. Er gibt Annäherungen an die Dutroux-Affäre in 12
Kapiteln. Zwölfmal einen anderen Blickwinkel auf dieselbe Sache. Er
setzt die aktuelle Affäre samt der gesellschaftlichen Reaktionen in
Zusammenhang mit früheren Affären, mit dem weltweiten Kinderhandel,
schildert den Kompetenzwettkampf innerhalb der Justiz, dasselbe von der
Polizei... In vieler Hinsicht ein äußerst informatives Buch.
Gerade die weiter ausholenden Teile geben Belgienneulingen tiefere Einblicke
in Land und Leute als es jedes andere Belgien-Buch derzeit auf dem deutschen
Markt vermag.
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Leider verfängt
sich der Autor allerdings etwas allzu häufig in handfesten Vorurteilen.
Es ist schon ärgerlich, ständig davon zu lesen, die weißen
Märsche setzten sich von "normalen" Demonstrationen insofern stark
ab, als sie nicht in erster Linie Randale zum Inhalt hätten. Hier
betet jemand die Propaganda seiner Zeitung (der FAZ) nach, die angesichts
von 2% gewalttätigen Demonstrationen (in Deutschland) einfach lächerlich
ist.
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Außerdem
nimmt er in der innerbelgischen Auseinandersetzung unterschwellig einen
flämisch-nationalistischen Standpunkt ein, ohne dies offen darzulegen.
Für ihn ist klar, daß "die Frankophonen" sich auf einer systematischen
Landnahme befinden, mit dem Ziel den Flamen soviel Land wie möglich
unter dem Boden wegzureißen. Flämisch ist für ihn die "eigentliche"
Sprache Brüssels, die sich unter (illegitimem) Beschuß der Frankophonie
befindet. Meines Wissens ist es schlicht falsch, wenn er z.B. behauptet,
es gäbe reihenweise frankophone Gymnasien in Flandern.
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In vielen z.B.
historischen Details werden unhaltbare Positionen geäußert,
die Belgische Verfassung von 1830 wird als besonders undemokratisch dargestellt,
was sie natürlich im Vergleich mit heutigen ist, nichtsdestotrotz
war sie für fast 90 Jahre einsames Vorbild für alle Demokraten
in Europa. Land und Begriff Belgien wurden 1830 nicht künstlich aus
der Antike hervorgekramt, auch im 18. Jahrhundert hatte es schon "belgische"
Bewegungen gegeben. Der Vlaams Blok hat keine regelmäßigen Stimmanteile
von 20%, nur in ausgewählten Hochburgen, und die Front National schon
garnicht.
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Witzig angesichts
seiner "flamiganten" Neigungen, daß ausgerechnet die Föderalisierung
"seit 1993" als Ursprung des belgischen "Kompromiß- und Proporzwesens"
herhalten muß. Wenn das erst vier Jahre alt wäre, gäbe
es wohl weniger Probleme... In der Beschreibung liegt die Stärke des
Buches. Die Erklärungen fallen davon merklich ab. Schümer wirft
mit Märchenmetaphern nur so um sich, verschiebt die ganze Affäre
gar streckenweise ins Mystische. Wieso sollte es dem Minister di Rupo bitte
"vom Schicksal vorherbestimmt" sein, der auf Dutroux folgenden juristischen
"Überaktivität" zu werden? Welche Rolle soll hier das Schicksal
spielen? Wodurch begründet sich die Vorherbestimmtheit? Gelegentliche
Ausflüge in die Völker-Psychoanalyse sind ebenfalls eher peinlich.
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Die Weißen
Märsche werden zum ewigen Guten hochstilisiert, die Teilnehmer "hatten
nie in ihrem Leben etwas Ungesetzliches getan, vorbildliche Staatsbürger
allesamt", Dutroux und Co. zu "moralisch losgelösten Individuen".
Sind die Probleme nicht vielmehr struktureller Art? Die belgische Debatte
drehte sich viel stärker um die Frage, ob nicht bestimmte Verhaltensweisen
und Gewohnheiten der ganzen belgischen Gesellschaft Schuld sein könnten.
Im weiteren notiert er begeistert, daß hier junge Menschen nach Autorität
schrieen, die Grenzen der Liberalisierung seien erreicht. Wiederum eine
kritiklose Übernahme gängier FAZ-Thesen, die einer näheren
Überprüfung nicht stand halten. Die Belgier haben Angst vor einer
Polizei, einer Justiz und einer Politik, die offenbar ziemlich verwoben
sind mit dem kriminellen Milieu. Sie wollen den Sicherheitsapparat in der
bestehenden Form nicht einfach stärken.
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Da Schümers Werk
in deutscher Sprache eine Monopolstellung hat, ist es unverzichtbar. Lassen
Sie sich aber um Gottes Willen nicht von jedem Detail und schon garnicht von
seinen Deutungnsansätzen aufs Glatteis führen. Die sind über
weite Strecken unglaublich haarsträubend.
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Rezension zu: Dirk
Schümer: Die Kinderfänger. Ein belgisches Drama von europäischen
Dimensionen. Siedler-Verlag, Berlin 1997.
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Brüssel-Rundschau, 28.11.97
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(c) Malte Woydt & Brüssel-Rundschau
1997
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