Die Partei, die Partei hat immer Recht:
Belgische Politik vom Kopf auf die Füße gestellt
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Auch in Belgien gibt es Parteien,
Gewerkschaften, Wahlen, Parlamentarier, Minister und Bundesländer, das heißt aber
nicht, daß sie dieselbe Rolle spielen wie in Deutschland...
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60% der Belgier sprechen niederländisch:
die Flamen (aus Flandern und Brüssel). 40% Französisch: die Wallonen und frankophonen
Brüsseler. Weniger als 1% deutsch (Ostbelgier). 1962 wurde die Sprachgrenze für
die Ewigkeit einbetoniert: Flandern ist einsprachig niederländisch, die Wallonie
einsprachig französisch, Brüssel zweisprachig französisch und niederländisch.
Zwei Handvoll Gemeinden um Brüssel herum, entlang der Sprachgrenze und in Ostbelgien
haben jeweils eine Hauptsprache und Minderheitenrechte für eine andere Sprache.
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Derzeit haben wir in Belgien
drei ungefähr gleichgroße "politische Familien", zu denen jeweils eine flämische
und eine frankophone Partei gehören: Liberale (VLD und MR), Sozialisten (SP.A
und PS) und Christdemokraten (CD&V und CDH). Die Grünen (Agalev und Ecolo) hatten
nach den Wahlen von 1999 gehofft, zu dem Club dazuzugehören, wurden aber bei den
Wahlen von 2003 von den Wählern ziemlich zusammengestaucht. Die Rechtsextremen
sind stark in Flandern (Vlaams Blok) und schwach im frankophonen Belgien (FN).
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Hinter den großen Parteien verbergen
sich ausgedehnte Netzwerke, die - viel stärker als in Deutschland, aber mit gewissen
Ähnlichkeiten zu Österreich - das gesamte öffentliche Leben umfassen. So gibt
es jeweils liberale, sozialistische und christdemokratische Gewerkschaften, Unternehmerverbände,
Krankenkassen, Sozialeinrichtungen, Zeitungen, Banken, Versicherungen und Universitäten.
Auch die Schulen zerfallen in katholische (lies christdemokratische) und staatlich-laizistische
(= liberal und sozialistische). Dieses System wird "Versäulung" genannt. Die Bürger
scheren sich heute nur noch wenig darum, welche Bank welcher Partei nahe steht
(das nennt man dann "Entsäulung"), auf der Elitenebene halten die Netzwerke aber
noch gut zusammen. Auf der Université Libre de Bruxelles trifft man vornehmlich
frankophone Liberale an, auf der Katholieke Universiteit Leuven flämische Christdemokraten
und in Lüttich frankophone Sozialisten - so decken sich die auf der Uni fürs Leben
gestifteten Freundschaften aufs Schönste mit dem Parteinetzwerk. Alle Richter
und alle leitenden Beamten des Landes lassen sich einer Partei zuordnen und werden
nur befördert, wenn die gerade an der Regierung ist.
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Mit der logistischen Unterstützung
der eigenen "Säule" im Rücken dominieren die Parteivorsitzenden das Geschehen.
Ein Premierminister hat nur dann die Hände halbwegs frei, wenn er es schafft,
die konkurrierenden Vorsitzenden auf Ministerposten zu hieven.
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Jahrzehntelang veränderten Wahlen
so gut wie nie die Regierungszusammensetzung. Die Christdemokraten blieben sowieso
an der Regierung (von 1958 bis 1999) und suchten sich völlig unabhängig vom Wahlergebnis
entweder die Liberalen oder die Sozialisten als Koalitionspartner aus. Seit 1999
sind die Christdemokraten nun in der Opposition, was ihnen gar nicht gut bekommt,
und wir haben eine Regierung aus Liberalen und Sozialisten (von 1999-2003 zusammen
mit den Grünen).
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Der Witz ist, daß Wahlen dennoch
sehr wichtig sind. Die Prozentanteile bestimmen nämlich, welchen Anteil an Beamtenposten
man während der Legislaturperiode besetzen darf (plus einen Nachholbonus für Parteien,
die gerade eine längere Oppositionszeit hinter sich haben). Und die Stimmanteile
einzelner Politiker (man kann beliebig viele Namen ankreuzen, wenn sie nur auf
derselben Liste stehen) entscheiden, ob sie für die Parteizentrale so wichtig
werden, daß man ihnen besser einen Posten geben sollte, um ihre Anhängerschaft
nicht zu verlieren - oder auch nicht. Übrigens herrscht Wahlpflicht, an die 10%
der Wähler gibt aber leere Stimmzettel ab.
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Jeder Minister hat eine eigene
"Staatskanzlei" mit bis zu 160 persönlichen Mitarbeitern, "Kabinett" genannt.
Da die größtenteils anderen Parteien angehörenden Ministerialbeamten sowieso nur
blockieren, versucht der Minister mit seinem eigenen Personal an ihnen vorbeizuregieren.
Der Umgangston in Regierung und Parlament ist äußerst rüde, wenn man das auch
nie in eine Fernsehdebatte trägt. Die Kabinette versuchen durch gegenseitige Tiefschläge
die Projekte der jeweils anderen Minister (gerne auch der eigenen Partei) zu Fall
zu bringen. Nur wenige Politiker haben einen so festen Stand, daß sie sich ihre
Mitarbeiter selber aussuchen können. Normalerweise werden die meisten von der
Parteizentrale oder parteinahen Organisationen ernannt, beim Landwirtschaftsminister
etwa vom Bauernverband. Nicht zuletzt, um als Aufpasser zu fungieren.
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Wie kommen in solch einem Klima
überhaupt politische Entscheidungen zustande? Das funktioniert ein wenig wie bei
Don Camillo und Peppone. Zuerst eine große Rauferei, die den Kampfhähnen bestätigt,
was für tolle Kerle sie sind, und statt einen Kompromiß in der Sache zu formulieren,
bekommt dann jeder seinen Willen, nur in unterschiedlichen Streitfragen - die
Belgier sind Europameister im Schnüren origineller bis unmöglicher Kompromißpakete
und wissen auch mit der Interpretationsbreite unterschiedlicher Sprachfassungen
ein- und desselben Textes zu jonglieren. Kein Zufall, daß es oft die Belgier sind,
die auf EU-Gipfeltreffen die völlig verqueren Kompromißpakete auf Fischereisubventionen,
Altautoverordnung und Schüleraustausch vorschlagen, die dann für jedermann akzeptabel
sind (und Belgien ganz bestimmt nicht übervorteilen...).. Man nennt so etwas hier
einen "belgischen Kompromiß". Von Streitfragen, über die partout keine Einigung
möglich ist, sagt man, sie kommen in den "Kühlschrank", so stören sie nicht weiter,
und vielleicht lösen sie sich mit den Jahren von selbst.
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Politische Entscheidungen sind
in Belgien nie endgültig. Sie können immer noch nachträglich von Interessengruppen
oder boykottierenden Beamten zu Fall gebracht werden. 1950 ergab eine Volksbefragung
eine satte Mehrheit für die Rückkehr König Leopolds III aus dem österreichischen
"Exil". Ein wallonischer Generalstreik machte die Rückkehr dann trotz Volksvotum
und Parlamentsbeschluß zunichte, und die versammelten Parteivorsitzenden entschieden
in einer Krisensitzung, die Monarchie beizubehalten, aber Kronprinz Balduin auf
den Thron zu hieven. Was da im Großen geschah, geschieht oft auch im Kleinen.
Versuchen Sie mal, durch die lange Reihe "endgültiger" Entscheidungen über die
Zukunft des Brüsseler Güterbahnhofes "Thurn und Taxis" durchzusteigen...
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Während der sechziger, siebziger
und achtziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts fiel eine belgische Regierung
nach der anderen über dem sogenannten "Sprachenstreit", der eigentlich nichts
anderes ist, als die Anpassung einer für einen homogenen Nationalstaat entworfene
Verfassung an die multikulturelle Realität des Landes. Frankophone und Flamen
wollten sich nicht mehr streiten müssen. Deshalb veranstalten sie seit 1970 alle
paar Jahre eine Staatsreform, bei der ein Politikfeld nach dem anderen den Gliedstaaten
übergeben wird. Die Verfassung wird hier häufiger umgeschrieben als sich die Mehrheitsverhältnisse
ändern. Aus einem zentralistischen Land wurde ein Bundesstaat. Spätestens seit
1988 haben die belgischen Gliedstaaten mehr zu sagen als die deutschen Bundesländer.
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Wir haben drei "Regionen" (Flandern,
Brüssel und die Wallonie) für alles, was mit dem Boden zusammenhängt, etwa Städtebau,
Abwasser und Wirtschaft. In Brüssel gibt es sowohl französichsprachige als auch
niederländischsprachige Schulen, die man schlecht im selben Bildungsministerium
unterbringen konnte, wenn man sich nicht mehr streiten wollte. Deshalb gibt es
zusätzlich zu den drei Regionen noch drei weitere "Bundesländer", die flämische,
französische und deutschsprachige "Gemeinschaft". Genauso wie die Regionen haben
sie ihr eigenes Parlament, ihre eigene Regierung und ihren eigenen Ministerpräsidenten.
Sie sind zuständig für alles was personalisierbar ist, insbesondere Bildung und
Kultur.
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Die Geschichte wird noch etwas
komplexer, und das ist, was "asymmetrischer Föderalismus" genannt wird: Die Flamen
haben ihre beiden "Bundesländer" zusammengelegt, so gibt es nur noch fünf Bundesländer.
Und die können untereinander bilateral Zuständigkeiten hin- und herschieben. So
kümmert sich die deutschsprachige Gemeinschaft auch um die Arbeitsvermittlung,
obwohl das eigentlich Regionalsache ist, und die beiden großen Gemeinschaften
haben für Brüssel gewisse Kompetenzen an nach Sprache getrennte sogenannte "Gemeinschafts-Kommissionen"
von Brüsseler Regionalparlament und -regierung abgegeben...
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Der "Sprachenstreit" wurde so im Großen und Ganzen gelöst. Nur in einer Handvoll
sogenannter "Fazilitätengemeinden" an der Sprachgrenze und um Brüssel herum gibt
es noch ernstzunehmende Probleme. Der Zufall will es, daß ausgerechnet da viele
Deutsche ihren Wohnsitz genommen haben. Viel problematischer ist allerdings, daß
die belgischen Politiker durch den "Sprachenstreit" jahrzehntelang so in Anspruch
genommen waren, daß für wichtige Reformen, mit denen sich währenddessen die Nachbarländer
beschäftigten, hier keine Zeit blieb - beispielsweise in der Justiz oder im Umweltschutz.
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Klang das jetzt zu kompliziert? Kein Problem, die Belgier kennen sich da auch
nicht aus. Brauchen sie auch nicht, da Institutionen hier sowieso viel weniger
wichtig sind als etwa in Deutschland. Wenn Sie mit einer Behörde ein Problem haben,
gehen Sie zu einem Politiker Ihrer Wahl und bitten ihn um Hilfe. Der wird vom
Staat ja dafür bezahlt, sich auszukennen, und für Sie an den richtigen Drähten
zu ziehen. Viele Menschen werden Ihnen nicht erzählen wollen, welche Partei sie
wählen, weil sie sich damit der Möglichkeit begäben, im Bedarfsfall bei einem
Politiker einer anderen Partei anzuklopfen, wenn das erfolgversprechender ist.
In etwas abgeänderter Form erschienen in: "Neu in Belgien", September
2003
(c) Malte Woydt
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NÄCHSTER BELGIENKURS
Als Abendkurs über 9 Dienstagabende. Ab 4. Oktober 2005, jeweils 20:15 Uhr bis 21:45 Uhr, in den Räumen der Deutschen Schule. Für KUBI, dort anmelden, siehe
www.kubi.be
BALD IM HANDEL:
GESETZGEBUNG IN BELGIEN
Belgienkapitel in einem Sammelband von Wolfgang Ismayr: Gesetzgebung in Europa. Opladen 2005.
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