Belgische Geschichte im Schnelldurchlauf
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Die in Belgien weit verbreitete
Kunst, nach oben zu buckeln, ohne nach unten zu treten und dann doch einfach weiterzumachen,
was man will, ist typisch für Gesellschaften unter Besatzungsregime. In Belgien
sagt man, wenn das Land mal nicht von fremden Mächten besetzt sei, sei immer noch
die belgische Besetzung da, um die Lücke zu füllen. So hat man im Land des Surrealismus
immer gute Gründe, den Staat nicht zu ernst zu nehmen und sich ohne ihn durchzuwurschteln.
Seit Jahrhunderten.
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Als die Römer in unsere Gegenden vorstießen, gab es da noch ein keltisches Volk
der Belgier. Cäsar nannte sie die "tapfersten aller Gallier", weil sie noch am
geringsten vom dekadenten Rom beeinflußt waren. Die römischen Provinzen Belgica
Prima und Belgica Secunda reichten vom Elsaß bis zum Kanal. Seit der Römerzeit
läuft eine Sprachgrenze durch das Land. Die südlichen Gebiete waren relativ dicht
von Römern besiedelt, dort spricht man noch heute das Vulgärlatein, das Französisch
genannt wird, im Norden spricht man heute niederländisch.
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Nach den Römern kamen die Franken,
auf Karl den Großen folgte Lotharingien. Im Hochmittelalter zerfiel das heutige
Belgien in verschiedene Grafschaften und Herzogtümer. Der Westen von Lille bis
Gent gehörte zu Frankreich, die Mitte und der Osten zum "deutschen" Reich. Das
war zu der Zeit, als Gottfried von Bouillon seine Burg im belgischen Städtchen
Bouillon verkaufte, um seine Kreuzzüge zu finanzieren, von denen so wenig Männer
zurückkamen, daß deren hinterbliebenen Frauen landauf landab Beginenhöfe gründeten,
um sich für's Alter abzusichern. Die Luxemburger stellten derweil reihenweise
böhmische Könige und deutsche Kaiser, bis ihr Geschlecht aus Erregung über den
ersten Prager Fenstersturz ausstarb.
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Im fünfzehnten Jahrhundert heirateten und kauften die Burgunder die hiesigen Gebiete
zusammen. Als Brüder und Vettern schwacher französischer Könige konnten sie das
Gewicht Frankreichs in die Waagschale legen, um sich eine ansehnliche Hausmacht
aufzubauen. Sie erreichten die weitestgehende territoriale Einheit des heutigen
Benelux. Allerdings kamen in Frankreich auch wieder stärkere Könige an die Macht.
Als Maria von Burgund ihre Erbschaft antrat, sah sie sich militärisch so bedrängt,
daß sie im Jahr 1477 Maximilian von Habsburg heiratete, damit die beiden Mittelstaaten
Burgund und Österreich ihre Kräfte zusammentun konnten.
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Maximilian schrieb über den Reichtum der gerade hinzugewonnenen Lande nach Hause: "Ihr glaubt
es nicht, aber hier gibt es zwanzig Städte so wie Wien". Die Bourgogne ging zwar
an Frankreich verloren, die Habsburgerlande standen aber vor einem rasanten Aufstieg.
Der in Gent geborene Karl V. vereinigte schließlich Österreich, die Niederlande,
Spanien, die spanischen Kolonien in Südamerika, Neapel, Sizilien und die deutsche
Kaiserkrone unter seiner Herrschaft. Er führte einen Krieg nach dem anderen, förderte
wirtschaftlich und politisch aber seine niederländische Heimat. 1514 zog die Familie
von Thurn und Taxis nach Brüssel um im Auftrage Karls V. von dort aus das europäische
Postsystem aufzubauen.
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Schon Karl V. hatte gegen den um sich greifenden Protestantismus die Inquisition ins
Land gerufen, Unter Karls in Spanien aufgewachsenem Sohn Philipp II. weitete sich
der Konflikt zu einem offenen Bürgerkrieg aus. Goethes Egmont wurde da geköpft
und De Costers Ulenspiegel vollbrachte seine Heldentaten. Der Westfälische Frieden
von 1648 beendete den deutschen Dreißigjährigen Krieg und den hiesigen Achtzigjährigen
Krieg: Etwas vereinfacht, heißt heute Belgien, was die Katholiken zurückerobert
haben und Niederlande, was die Protestanten ihnen entrissen haben. Es ging damals
mit unserer Gegend wirtschaftlich bergab, während die vielen wohlhabenden und
handwerklich versierten Flüchtlinge aus dem Süden das "Goldene Zeitalter" der
(nördlichen) Niederlande begründeten. Der Hafen von Antwerpen wurde dagegen für
Jahrhunderte geschlossen, da die Niederländer die Scheldemündung mit ihren Kanonen
bestrichen...
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Mit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) kamen die südlichen Niederlande zu Österreich.
Das 18. Jahrhundert war geprägt durch den Konflikt zwischen den absolutistischen
Neigungen der Kaiser und dem Autonomiestreben der hiesigen Städte. Der Versuch,
mit einer "Compagnie von Ostende" am Kolonialhandel teilzuhaben, wurde im Ansatz
erstickt, als die Österreicher vor Drohgebärden aus Großbritannien und den Niederlanden
zurückschreckten. 1790-91 kam es zu einer Revolution der Belgier gegen Joseph
II., die nach einigen Monaten von den Österreichern niedergeschlagen wurde.
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1794 kamen die Franzosen und nach der bekannten Schlacht in Brüssels südlichem Vorort
Waterloo zogen sie sich 1814 wieder zurück. Aus der napoleonischen Zeit datiert
Vieles im heutigen Belgien: Die Angliederung des über die Jahrhunderte immer unabhängigen
Fürstbistums Lüttich, das Rechtssystem, die Beziehungen von Kirche und Staat.
Englische Unternehmer begannen unter Umgehung der Kontinentalsperre das napoleonische
Europa von belgischen Fabriken aus zu beliefern. Belgien wurde so zum zweiten
Industrieland der Weltgeschichte. Außerdem begann während der Franzosenzeit die
Oberschicht ganz Belgiens, französisch zu sprechen. Niederländisch wurde zur Sprache
von Unterschicht und unteren Mittelschicht degradiert. Auch in Gent und Antwerpen.
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Die Schlacht von Waterloo war geschlagen, und die Österreicher waren nur zu froh,
ihre unbequemen Niederlande auf dem Wiener Kongreß gegen Venedig eintauschen zu
können. Die Siegermächte wollten durch die (Wieder-)Vereinigung der südlichen
und nördlichen Niederlande einen widerstandsfähigen Pufferstaat gegen die Franzosen
bilden. Malmedy ("Preußisch Wallonien") und Eupen wanderten damals in preußischen
Besitz. Wilhelm I. der Niederlande stieß allerdings mit den Jahren auf den Widerstand
der dickköpfigen Belgier. Der örtliche Adel war verschnupft, da viele der ihren
loyal zu Österreich gestanden hatten. Das liberale Großbürgertum war unzufrieden,
weil sie in den gemeinsamen Niederlanden gegen die Dominanz der "Randstad"-Eliten
aus Amsterdam, Den Haag usw. nicht ankamen. Die katholischen Mittelschichten waren
mißtrauisch gegenüber den Niederländern als Protestanten, die überall staatliche
Schulen einrichten wollten. So stützte 1830 eine breite gesellschaftliche Koalition
die Revolution für die belgische Unabhängigkeit. ......
Die Niederländer zogen sich zunächst überrascht und etwas orientierungslos zurück,
was dem belgischen Nationalkongreß die Zeit gab, eine Verfassung zu verabschieden
und ihre Unabhängigkeit international abzusichern. Als die niederländischen Truppen
1831 zurückkamen, wurden sie von der französischen Armee zurückgeschlagen. Die
Großmächtekonferenz von London hatte beschlossen, den Belgiern ihre Unabhängigkeit
zuzugestehen. Frankreich war für ein französischsprachiges Land an seiner Nordgrenze.
England für die Dreiteilung eines drohenden Konkurrenten (die Niederlande hatten
die zweitgrößte Handelsflotte, die Belgier die zweitgrößte Industrie der Welt).
Österreicher, Preußen und Russen bekamen im Gegenzug das Placet der Westmächte,
den gleichzeitigen polnischen Befreiungskampf blutig niederzuschlagen. Preußen
bekam darüberhinaus die Abtrennung Luxemburgs, das Mitglied des Deutschen Bundes
und Standort einer Bundesfestung mit preußischen und österreichischen Truppen
blieb. Erst 1839 waren die beiden Streithähne bereit, sich dem Diktat von London
zu beugen, sie schlossen einen Friedensvertrag, das nördliche Limburg ging an
die Niederlande und der Hafen von Antwerpen wurde wieder geöffnet.
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Belgien war Vorreiter der ersten industriellen Revolution (Kohle und Stahl), lief in der
zweiten industriellen Revolution (Chemie) noch gut mit, verpaßte den Anschluß
aber bei der dritten (Elektronik). Um die Jahrhundertwende verkaufte Belgien sich
als neutraler Mittler für den Handel zwischen den beiden "Erzfeinden" Frankreich
und Deutschland, zog aber auch mit Sozialdumping Investitionen aus den Nachbarländern
an.
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Politisch war Belgien das neunzehnte Jahrhundert hindurch so etwas wie die Modell"demokratie"
des Kontinents. Die belgische Verfassung von 1830 diente vielen anderen Staaten
als Vorbild. Leopold I. von Sachsen-Coburg wurde erst zum "König der Belgier",
nachdem er auf die Verfassung geschworen hatte. Hier hatte der König von vorneherein
nur die Macht, die ihm die Verfassung gab. Als sich in den 1840er Jahren politische
Parteien und Parlamentsfraktionen zu bilden begannen, konnte der König nicht mehr
mit wechselnden Mehrheiten regieren und mußte die Regierungsgeschäfte de facto
den Parteien überlassen. Man mußte später nur das Wahlrecht ausweiten und schon
wurde aus Belgien eine Demokratie.
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Zunächst sollten wir aber auch König Leopold II. noch erwähnen. Das Parlament hatte seinen
Vorschlag abgelehnt, für Belgien Kolonien zu erwerben, ihm aber zugestanden, das
als Privatperson zu tun. Tatsächlich wurde 1885 der "Internationale Kongofreistaat"
mit ihm als "Unumschränkten Herrscher" an der Spitze von allen Großmächten anerkannt.
Millionen von Afrikanern kamen bei Zwangsarbeit und "Strafexpeditionen" ums Leben.
1908 war die internationale öffentliche Empörung (neben anderem beeinflußt durch
die Schilderungen des deutschen Schriftstellers Joseph Conrad) so groß, daß Belgien
sich die Kongokolonie schenken ließ. Leopold II kam das zupaß, alle rentablen
Teile der Kolonie hatte er bereits in kunstvoll verschachtelten von Strohmännern
geleiteten Unternehmen untergebracht, sodaß Belgien zunächst nur die Kosten für
Infrastruktur, Militär, Verwaltung, Schulen und Krankenhäuser hatte.
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1914 wurde Belgien für vier Jahre zum Schlachtfeld. Nur ein kleiner Zipfel des Landes
um Ypern herum konnte mit Hilfe der Überflutung großer Landstriche gehalten werden.
Der flämische Weiler Langemarck ist mehreren Generationen von Deutschen ein Begriff,
dort wurden die deutschen kriegsfreiwilligen Studenten verheizt. Die deutschen
Truppen brannten die jahrhundertealte Universitätsbibliothek von Löwen ab und
trieben in dem kleinen Ardennenstädchen Dinant alle männlichen Erwachsenen und
Jugendlichen zusammen, um sie auf der Stelle zu erschießen, weil es angeblich
Partisanenüberfälle aus dem Hinterhalt gegeben hatte. Mit Sympathien für Deutschland
war es in Belgien erst einmal vorbei. Statt der insgeheim erhofften größeren Gebietsgewinne
bekam Belgien in Versailles nur Eupen und Malmedy zugesprochen.
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Belgien brauchte die gesamte Zwischenkriegszeit, um das Land wieder aufzubauen und wirtschaftlich
wieder auf die Beine zu kommen, und schon standen 1940 wieder deutsche Truppen
im Land. Diesmal dauerte es nur 3 Wochen und die Wehrmacht war durch Belgien hindurch.
Die Belgier zogen sich im Zweiten Weltkrieg ganz gut aus der Affäre. Hitler war
lange unentschlossen, was er mit Belgien anfangen sollte, so blieb das Land bis
kurz vor Ende des Krieges unter Militär- (und nicht SS-)Verwaltung. Wie bereits
im Ersten Weltkrieg versuchten die Besatzer, durch Förderung flämischer Nationalisten
den flämisch-frankophonen Konflikt für sich nutzbar zu machen. Schwierig war nur,
daß es mehrere untereinander verfeindete Nationalistenorganisationen gab, und
daß man auch die Unterstützung der frankophonen Faschisten nicht verlieren wollte.
Die Befehl und Gehorsam gewohnten Deutschen standen ziemlich hilflos vor dem unübersichtlichen
politischen System Belgiens, das so vielen Institutionen und Institutiönchen etwas
zu sagen gab - wieso zum Teufel durfte jedes Dorf seine eigenen Personalausweise
ausgeben?
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Es fielen viel weniger Belgier im Krieg als beim ersten Mal, die Deportationen von
Juden und Zwangsarbeitern forderten aber auch im Zweiten Weltkrieg viele Opfer.
Da es zum Entsetzen der Nazis in Belgien keinen verwurzelten Antisemitismus gab,
und es eine willkommene Sabotage der Besatzungsmacht war, "den Deutschen einen
Juden zu entreißen", überlebte die Hälfte der in Belgien lebenden Juden die deutsche
Judenvernichtung. Die Kirche und viele, viele normale Bürger versteckten Juden
(darunter Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland).
Postboten öffneten die an die Gestapo gerichteten Briefe, um dem Widerstand mitzuteilen,
wer denunziert wurde. Polizisten klingelten mitten in der Nacht an der Tür, um
vor dem bevorstehenden Besuch der Gestapo zu warnen... Belgien sah auch den einzigen
Überfall, der in ganz Europa auf einen Judentransport verübt wurde.
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Der Vormarsch von Amerikanern, Briten und Polen war 1944 ebenfalls nach drei Wochen
vorüber, er blieb erst in den Niederlanden längere Zeit stecken. Bittere Erinnerungen
an den Zweiten Weltkrieg gibt es in der Region um Bastogne und Arlen, die Anfang
1945 mitten in der Ardennenoffensive zu liegen kamen: Da hatte man Weihnachten
bereits mit den Amis und ihrem Corned-Beef gefeiert und plötzlich kamen die Deutschen
zurück, um alles niederzubrennen.
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Was im öffentlichen Bewußtsein Belgiens heute noch eine Rolle spielt, ist die Entnazifizierung.
In Belgien wurde als einzigem Land Westeuropas bereits direkt nach dem Krieg versucht,
radikal mit der Kollaboration aufzuräumen. Hunderte von Todesurteilen wurden gefällt.
Flämisch-nationalistische Kreise verlangen noch heute eine rückwirkende Amnestie,
weil sie sich überproportional gesäubert fühlen. Das ausgeprägte Bewußtsein für
die Kollaborationsfrage, die sogar König Leopold III. einschließt, weil der ohne
Rücksprache mit der Regierung kapituliert hatte und mitten in der Besatzungszeit
eine prächtige Hochzeit veranstaltete, führt dazu, daß die Belgier zu Gunsten
von Deutschen und Österreichern vermuten, daß jene sich wohl auch in Nazis und
Widerständler teilten und deswegen nicht alle für den Krieg verantwortlich gemacht
werden können.
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Britische Bomberpiloten berichteten von ihrem Erstaunen inmitten des zerstörten Europas
über ein ziemlich intaktes, friedlich ausschauendes Belgien zu fliegen. Belgien
erlebte 1944 bis 1950 einen beispiellosen Wirtschaftsboom, seine unzerstörte Industrie
konnte ganz Europa beliefern, die Bodenschätze des Kongo lieferten genügend Devisen
und Antwerpens Rolle als US-Brückenkopf tat ein Übriges. Der Boom wurde von Gewerkschaftern
und Unternehmern, die sich im Widerstand gegenseitig schätzen gelernt hatten,
dazu genutzt, endlich auch in Belgien ein den Nachbarländern vergleichbares Sozialsystem
einzuführen.
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Die Wirtschaftskrise kam dann, als in den Nachbarländern funkelnagelneue Maschinen
von Arbeitern mit niedrigen Löhnen angeworfen wurden. Die goldenen Fünfziger waren
hier viel weniger golden als etwa in Deutschland. Rückblickend betrachtet markierte
dann die Expo 58 mit dem Atomium als belgischem Pavillon das Ende einer Ära: Das
homogene, von französischsprachigen Eliten regierte Kolonialimperium feierte seine
Abschiedsparty. Es folgte die Gleichberechtigung der Flamen und der niederländischen
Sprache sowie die Unabhängigkeit des Kongo. Und schon fand sich "La Belgique de
Papa" vor einem ähnlichen Scherbenhaufen wie Österreich 1918. Eines der größten
Länder der Erde sah sich auf einen Europäischen Mittelstaat zurückgeworfen und
war im Innern zerstritten.
In etwas abgeänderter Form erschienen in: "Neu in Belgien", September
2003
(c) Malte Woydt
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NÄCHSTER BELGIENKURS
Als Abendkurs über 9 Dienstagabende. Ab 4. Oktober 2005, jeweils 20:15 Uhr bis 21:45 Uhr, in den Räumen der Deutschen Schule. Für KUBI, dort anmelden, siehe
www.kubi.be
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