Malte Woydt, Rezension zu:
Nationale Bewegungen in Belgien.
Ein deutscher Sammelband.
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Im Ausland werden manchmal haarsträbende Dinge über Belgien geschrieben. Auch auf Deutsch gibt es bislang nur wenig lesenswerte Literatur zu unserer Wahlheimat. Kürzlich aber erschienen Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung in einem Sammelband, der für eine wissenschaftliche Publikation äußerst preisgünstig (29,90 €) und lesbar ausgefallen ist - unbedingte Kaufempfehlung! Wir wären nicht in Belgien, wenn die Autoren nicht gleich eine ganze Handvoll nationaler Bewegungen aus dem Hut zauberten...
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Der beste Beitrag stammt von Bruno de Wever, der die Geschichte der Flämischen Bewegung nachzeichnet. Er speist uns nicht mit einer linearen Erzählung ab, sondern erzählt jeweils dabei, welche Historikerschulen etwas so oder so interpretieren. Wir erfahren beispielsweise, daß es eine katholische Schule gibt um Lode Wils, für die es die Katholiken waren, die am meisten für die flämische Sache taten, und laizistische Gegenstimmen, die Sozialisten oder Liberale für wichtiger halten... Als Deutscher hätte ich gerne mehr über den Zweiten Weltkrieg zwischen Flamenpolitik, Kollaboration und Entnazifizierung gelesen. De Wever selber hat dazu spannende Bücher auf niederländisch geschrieben.1
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Der gerade erwähnte Lode Wils2 steuert einen etwas verwirrenden Beitrag über die Großniederländische Bewegung bei, ein ganz seltsamer Haufen, der entweder Flandern an die Niederlande anschließen wollte, oder ganz Belgien, oder Flandern mit den Niederlanden zusammen an das Deutsche Reich... Hier erfahren wir dann auch schon etwas mehr über den Übergang vom Großniederländischen zum Großdeutschen Gedanken...
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Über die Wallonische Bewegung enthält der Band einen Aufsatz von Paul Delforge, Vertreter des Institut Destrée, sozusagen des offiziellen Sprachrohrs dessen, was von der Bewegung heute noch übrigbleibt. Sie fand sich hin- und hergeworfen zwischen Ablehnung flämischerseits gewollter Sprachgesetzgebung, der Wut über Regierungen ohne einen einzigen wallonischen Minister, Enttäuschung über zu wenig Hilfe für die notleidende Stahlindustrie, belgischem Nationalismus, Föderalismus, Unabhängigkeit und einem Anschluß an Frankreich...
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Johannes Koll widmet sich den verschiedenen Gruppierungen und Denkansätzen, die in österreichischer Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts, zum Entstehen eines belgischen Nationalbewußtseins führten. Nach dessen Lektüre wird niemand mehr behaupten können, Belgien sei 1830 als Kunstprodukt der Großmächte vom Himmel gefallen, wie man manchmal lesen kann...
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Louis Vos schreibt sehr interessant über den "anfangs kräftigen, später jedoch langsam aber sicher verdunstenden belgischen Nationalismus": Zunächst wie er im 19. Jahrhundert von Politik und Intellektuellen warm gehalten wurde, dann ausführlich, welchen Einfluß die deutschen Besatzungen auf belgischen und flämischen Nationalismus hatten und wie sich das Nationalgefühl der Belgier von heute auffächert.
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Abschließen tut den Band Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, der hier eine Langfassung des Vortrages bietet, den er uns brüssel-deutschen Gastarbeitern ab und zu gibt: Einen Überblick über seine Sicht auf die Föderalisierung Belgiens und das vorsichtige Lavieren der Ostbelgier zwischen den beiden großen Streitparteien - der Begriff einer "ostbelgischen Nationalbewegung", den der Buchtitel nahelegen würde, käme ihm dabei natürlich nie über die Lippen ...
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Ein etwas seltsamer Beitrag stammt von dem Deutschen Winfried Dolderer. Er referiert seitenlang über das Belgien-(Flandern-)Bild einiger verstreuter Vertreter deutschen Nationalbewegung (in Deutschland) des 19. Jahrhunderts, um dann auf drei Seiten nicht zu überzeugen mit dem Versuch, darauf aufbauend einen Bogen zur "Flamenpolitik" der beiden deutschen Besatzungszeiten und dem Schaden den diese der flämischen Bewegung zugefügt hat, zu schlagen. Wenn letzteres das Thema gewesen sein sollte, warum dann das 19. Jahrhundert, wenn die deutsche Diskussion des 19. Jahrhunderts das Thema gewesen sein sollte, warum dann nicht versuchen, herauszuarbeiten, ob die zitierten Autoren damals Außenseiter oder Meinungsmacher gewesen sind?
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In Sammelbänden bleiben oft Lücken, Themen oder Zeiträume, die niemand bearbeiten wollte. Zwischen den Beiträgen von Koll und Vos fehlt einer über das frühe 19. Jahrhundert, die Napoleonische Zeit, die Zeit der Vereinigten Niederlande zwischen Wiener Kongreß und Belgischer Revolution. Hierzu empfehle ich die Lektüre von Jean Stengers bahnbrechendem Werk zum Thema.3 Auch warum Brüssel ein eigenes Bundesland geworden ist und wer das erstritten hat, hätte man gerne noch erfahren, aber ich bezweifele, daß es in den Landessprachen dazu schon etwas Überzeugendes gibt ...
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Insgesamt ein sehr lesenswertes, informatives Buch. Lassen Sie sich durch gelegentliche holprig übersetzte Sätze nicht abschrecken, der arme Herausgeber (ein Historiker) hat alle Beiträge selber übersetzen müssen.
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PS: Lesen Sie die Literaturangaben! Delforge zitiert kein einziges niederländischsprachiges Werk, Dolderer kein einziges französischsprachiges. Alle anderen lesen zwei bis vier Sprachen :-)
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Johannes Koll (Hg.): Nationale Bewegungen in Belgien. Ein historischer Überblick (Niederlande-Studien 37). Münster: Waxmann 2005, gebunden, 196 Seiten, 29,90 €.
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Rezension in etwas abgeänderter Form erschienen bei
www.belgieninfo.net.
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Anmerkungen
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1 beispielsweise: Bruno De Wever: Greep naar de macht. Vlaams-nationalisme en Nieuwe Orde. Het VNV 1933-1945. Tielt: Lannoo 1995.
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2 äußerst lesenswert, und sehr gut strukturiert: Lode Wils: Histoire des nations belges. Louvain-la-Neuve: Quorum 1996 (inzwischen neu aufgelegt)
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3 Jean Stengers: Histoire du sentiment national en Belgique des origines à 1918, Bd. 1, Brüssel 2000.
(c) Malte Woydt 2006
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