Belgien 2011
Nationalismus ist Lüge
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Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt. Belgien sei ein künstliches Gebilde sagt man uns und müsse darum verschwinden. Aber alle Staaten sind menschengemacht. Wer so ein "Argument" für Belgien akzeptiert, verplichtet sich dazu, auch Frankreich zu zerschlagen, Japan oder Luxemburg ... Gemeint ist natürlich, Belgien sei künstlicher als andere Länder. Aber nur durch die Brille nationalistischer Ideologie betrachtet, die verlangt, daß Kultur-, Sprach- und Staatsgrenzen immer zusammenfallen sollen, ist Belgien ein Kunstgebilde. Dieses Land ist 30 Jahre älter als Italien, 40 Jahre älter als Deutschland, 80 jahre älter als Norwegen und 160 Jahre älter als die Ukraine. 1831 war nur kleine französischsprachige Minderheiten (in der Genter und Vervierser Oberschicht) gegen die Gründung Belgiens. Belgiens Grenzen sind dabei zum großen Teil schon viel älter, sie datieren aus denselben großen europäischen Friedensschlüssen am Ende derselben großen europäischen Kriege, die alle Grenzen in Europa bestimmt haben.
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Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt. Flamen und Wallonen (Brüsseler gibt es ja nicht) sollen einander soooo grundverschieden sein, daß sie unmöglich in einem gemeinsamen Land zusammenleben können. Abgesehen davon, daß man Länder wie den Kongo nach demselben Kriterium in 400 Staaten aufteilen müßte: worin sollen diese unüberbrückbaren Unterschiede denn bitte bestehen? Zahlen Flamen lieber Steuern als Wallonen? Halten sich Flamen lieber an Bauvorschriften als Wallonen? Essen Flamen weniger gerne als Wallonen? Haben die Flamen schwächere Familienbande als die Wallonen? Welches Volk der Welt sollte den Flamen bitte ähnlicher sein als die Wallonen? Mit denselben "Argumenten" hätte es die deutsche Wiedervereinigung nie geben dürfen. Was hatten die Wessis denn schon mit den Ossis gemein? Der nationalistische Traum von ethnisch gesäuberten Nationalstaaten hat seit seinem Entstehen vor 200 Jahren Millionen von Menschen das Leben gekostet. Nur wer den Menschen als eine Art Lemming betrachtet, kann so etwas "natürlich" finden.
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Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt. Flämische und die wallonische "Volkswirtschaft" seien sooo grundverschieden, daß man nicht zusammen weitergehen könne, heißt es. Ja sicher, und Großbritannien täte auch gut daran, endlich Manchester hinauszuwerfen, Frankreich seinen Norden, und Bayern müßte endlich Mecklenburg aus Deutschland herauswerfen. Flanderns größter Trumpf ist der Hafen von Antwerpen. Ein effizienter Hafen, der mitten in einer der bevölkerungsreichsten Regionen Europas liegt. Wenn man das Land nach sozio-ökonomischen Geschitspunkten aufteilen wollte, müßte Wallonisch-Brabant zu Flandern und Limburg zur Wallonie geschlagen werden. Ohne Limburg ginge es Flandern noch besser - weg damit! Die Wallonie zieht heute doppelt soviele Auslandsinvestitionen an als Flandern, aber sowas ist ja nur Pipifax. Nationalisten haben immer versucht, ihre Ideologie rational zu untermauern. Nichts wäre allerdings weniger rational. Nationalisten lügen, was das Zeug hält und hoffen leider zu Recht, daß etwas hängenbleibt.
Rein innerflämisches Problem
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Je länger ich die Geschichte betrachte, desto stärker wird meine überzeugung, daß wir es eigentlich mit einem rein innerflämischen Problem zu tun haben. Flandern war früher einmal (etwa von 1820 bis 1960) ärmer als manche Nachbarregionen und ist heute eine der reichsten Regionen Europas. Wir haben es mit einem typischen Neureichensyndrom zu tun. Flandern droht an verkrampfter, neidischer, geiziger, hochmütiger "verzuring" (wörtlich: Versäuerung) zu ersticken. Viele Leute machen im Alltag einen ganz normalen Eindruck, aber erwachsene Menschen sind für ihre Handlungen selbst verantwortlich, und wen sie ins Parlament wählen, brocken sie sich selbst ein.
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Flandern war die letzten zwei Jahrzehnte der Nährboden einer der stärksten rechtsextremen Parteien Europas, und wenn ich schreibe, rechtsextrem, dann meine ich das auch so. Der Vlaams "Belang" (Blok) will die Staatsangehörigkeit nur per Geburt weitergeben, der Vlaams "Belang" (Blok) pflegt ein rassistisches Menschenbild, der Vlaams "Belang" (Blok) will die Ausländer in ihre angeblichen Heimatländer zurückschicken, der Vlaams "Belang" (Blok) will den Gewerkschaften jegliche Verhandlungsmacht nehmen, der Vlaams "Belang" (Blok) will den Kultursektor gleichschalten und die Medien sowieso.
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Dieses selbe Flandern ist Meister in der Verharmlosung des Rechtsextremismus. Politiker betrachten den Vlaams "Belang" (Blok) einzig und allein als gefährliche Konkurrenten, nicht als grundsätzliche Gefahr. Die Medien geben dem Vlaams "Belang" (Blok) seit Jahr und Tag ein Podium und erzeugen die Vorstellung, dessen Ideen seien respektabel, akzeptabel und demokratisch. Aber Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt.
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Stelle man sich mal vor: Ein Ex-Vorstandmitglied der NPD wird zu Grabe getragen, die gesamten deutschen Medien sprechen schon die Wochen davor von nichts anderem mehr, zahlreiche (Polit-)Prominenz ist bei der Beerdigung anwesend, die gesamte Berichterstattung dreht sich ausschließlich um "die arme Frau, die so früh sterben mußte". Und wenn ein "auswärtiger" Fernsehbeitrag sich dar&uUuml;ber verwundert, daß hier eine Dame geehrt wird, die ihr politisches Leben lang (Rassen-)Haß geschürt hat, gilt die Kritik als "unter der Gürtellinie". Erwachsene Menschen sind selbst verantwortlich für ihre Handlungen, man muß sie dafür auch zur Rechenschaft ziehen dürfen.
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Jene Partei scheint erfreulicherweise auf dem absteigenden Ast, trotz aller Verharmlosung, weil sie (u.a. dank genannter Dame) intern zerstritten ist und weil sie starke Konkurrenz bekommen hat. Wir erleben derzeit den Höhenflug einer anderen Partei, einer Partei "demokratischer Nationalisten", die mit Rechtsextremismus erfreulicherweise nichts zu tun hat, außer daß sie sich an dessen Verharmlosung beteiligt, aber da ist sie ja nicht alleine.
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Es ist die N-VA, die den Ton setzt in Flandern, die zur Zeit den Denkrahmen bestimmt. Ihre Ideologie wird Allgemeingut, abweichende Meinungen lächerlich gemacht. Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt, aber niemand merkt es mehr. Die N-VA vertritt gesellschaftspolitisch reaktionäre Vorstellungen, will die durch Raub des Finanzsektors an der Gesellschaft erzeugte Wirtschaftskrise mit weitergehender Liberalisierung und Privatisierung "bekämpfen", aber ist zuallererst eine nationalistische Partei.
Vereinigte Belgische Emirate
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Die N-VA will die Unabhängigkeit von Flandern, aber dabei alle Unannehmlichkeiten einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung vermeiden. Die N-VA will vermeiden, plötzlich Beitrittsanträge bei internationalen Organisationen stellen zu müssen, die N-VA will vermeiden, die dafür aufgestellten Regeln befolgen zu müssen (frankophone Faszilitäten in Ostende...), möchte deshalb für eine übergangszeit "Belgien" als leere Hülle und Partner internationaler Verträge behalten, als eine Art Vereinigte belgische Emirate. Die N-VA will darüberhinaus, daß das frankophone Belgien diese Politik fröhlich und kritiklos mitträgt, und sich auch "angemessen" an den turmhohen Kosten einer Trennung beteiligt. Die N-VA behauptet, das alles ginge ganz einfach, bzw. sei eigentlich ein natürlicher Prozeß, der sich sowieso nicht aufhalten ließe und der ohne großen Aufwand vollzogen werden könnte.
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Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt. Alles ist ganz einfach laut N-VA, aber die N-VA hat keinerlei realistischen Plan zu Brüssel, sie will ja die flämische Unabhängigkeit einschließlich Brüssel! Und wenn das schon nicht geht, dann soll Brüssel zumindest als gemeinsame Kolonie durch Flandern und die Wallonie regieren werden. Die N-VA nennt sich demokratisch, die Bürger von Brüssel aber sollen ihrer demokratischen Rechte verlustig gehen. Wir schreiben 2011 und hier soll mitten in der EU eine Großstadt zur Kolonie degradiert werden!
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Das Traurige ist, daß wir es hier nicht mehr mit verprengten Radikalen zu tun haben, deren Ansichten nicht zählen. Es gab sie ja schon früher; sie haben - als radikaler Flügel der Volksunie - noch nie eine der Staatsreformen, die Belgien föderalisiert haben, mitgetragen, weil sie ihnen nie weit genug gingen. Derzeit torpedieren diese Leute alle Kompromißversuche, indem sie alle zwei Monate neue Forderungen auf den Tisch werfen, die sie die Monate davor nicht erwähnt hatten. Die NV-A will keinen Kompromiß, will keine neue Regierung. Sie wollte das 2007 schon nicht, und jetzt auch nicht. Sie will beweisen, daß Belgien nicht funktioniert, indem sie selber alles dafür tut, daß es nicht funktioniert. Leider haben wir es heute dabei mit der stärksten Partei Flanderns zu tun, deren Ideologie von fast allen Medien geteilt wird, und der gleich mehrere politische Konkurrenten kritiklos hinterherhecheln, darunter Parteien mit einer langen verdienstvollen Geschichte wie die Christdemokraten und die Liberalen.
Bornierte Ideologen
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Die belgische Politik war schon immer von heftigen politischen Konflikten geprägt, die aber seit 1921, 1944, 1950, 1958 und 1970 immer in Kompromissen endeten. Das war nur möglich, weil bei aller Gegensätzlichkeit der Interessen und Ideen in früheren Politikergenerationen immer am Ende der Sinn für den Ernst der Politik und die Notwendigkeit von pragmatischen Lösungen die Oberhand gewann. Heute ist Belgien zum ersten Mal konfrontiert mit bornierten Ideologen an den Hebeln der Macht, bornierten flämischen Nationalisten, um Roß und Reiter klar zu nennen, die Kompromisse als Verrat ansehen. Und darauf muß eine Antwort noch gefunden werden. Das so angenehm pragmatische Belgien, das immer Lösungen fand, wo deutsche Prinzipienreiter nur gegen die Wand gelaufen wären, leidet plötzlich auch unter Prinzipienreiterei.
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Vor ein paar Wochen waren Überschwemmungen in Belgien. "Zwei Tote" titelte die flämische Presse, "4 Tote" die frankophone; nur letztere zählt die Toten der anderen Seite noch mit ... Die nationalistische Verdummung Flanderns ist kein "natürlicher" Prozeß, sie wird gesteuert, von Politikern und Medienleuten die absichtlich Belgien als Bezugsrahmen durch Flandern ersetzt haben, und ihren Bürgern vorgaukeln, Belgien bestände eigentlich gar nicht mehr und für Brüssel werde man die Endlösung schon noch finden. Lügen bleiben Lügen, auch wenn man sie oft wiederholt, aber viele Leute glauben sie halt gerne.
Malte Woydt
Wutanfall von Februar 2011 ...
(c) Malte Woydt 2011
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