MALTE WOYDT

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Ökos

“… Stell dir vor, du trittst eines Morgens auf die Straße, und alle sehen aus wie deine Eltern. Alle tragen die gleichen Jeans wie deine Eltern und die gleichen Vollbärte, alle essen die gleiche Vollwertkost, fahren die gleichen Lastenfahrräder, die gleichen VW-Busse und haben sogar die gleichen fucking Fjällräven-Rucksäcke dabei. … Dazu wollen alle plötzlich selbstbestimmt arbeiten und hängen mittags im Café und abends mit einer Flasche Bier auf den Bordsteinkanten rum. Alle!

Das ist der schräge Albtraum, in dem ich mich gerade wiederfinde.

Es sind nicht alle so, komm mal raus aus deiner linksgrün versifften Blase!, hör ich da rufen. Und ihr habt recht, ich lebe in einer Blase, und das schon lange: Kindheit in dieser Wohngemeinschaft, Jugend in den unzähligen linksalternativen Kulturzentren in Bremen, ab Mitte der Neunziger habe ich dann das Epizentrum dieser Blase als Wohnort gewählt, Berlin-Kreuzberg. Da lebe ich bis heute. Problem nur: Ich finde den Ausgang nicht mehr, so sehr hat sich diese Blase aufgebläht. Der grün-individualistisch-hedonistische Lebensstil scheint eine immense Sogwirkung zu haben. …

Aber wieso find ich’s nicht lustig? Was brodelt da in mir, wenn ich beobachte, wie eine Mutter im Berliner Graefekiez oder in Hamburg-Ottensen, eine Mutter mit Birkenstocks, ihrem Kind das Dinkelbrötchen in den Kinderwagen reicht? …

Vielleicht ärgert mich, dass die Versprechen meiner Kindheit gebrochen wurden. Damals, als meine Eltern jung waren, und neulich, als ich jung war, durften noch alle mitmachen, die Lust dazu hatten. In den Wohngemeinschaften meiner Eltern gingen die unterschiedlichsten Leute ein und aus. Es galt die stille Übereinkunft: Solange du dich von deinen Nazi-Eltern distanzierst, solange du die richtigen Jeans trägst und den richtigen Parka, solange du die richtige Musik hörst und solange du die richtigen drei, vier Bücher im Regal stehen hast, darfst du dabei sein. …

Und das ist der entscheidende Unterschied zu damals: Das Versprechen “Alle dürfen mitmachen” gilt nicht mehr. Die Birkenstocks von der Frau mit dem Kinderwagen und dem Dinkelbrötchen sind nur ein Paar von vielleicht dreißig Paar Schuhen, die sie zu Hause hat, und ihr Kinderwagen kostet so viel wie das gebrauchte WG-Auto meiner Eltern. Früher wurden wir Kinder in selbst gestrickte Pullover und billige Gummistiefel gesteckt. Heute tragen die Kleinkinder in den linksalternativen Stadtteilen dieser Republik Outdoorklamotten, Wollwalk-Overalls und skandinavische Schuhe im Wert eines Hartz-IV-Monatssatzes. Damals fuhr man Bulli, weil acht Personen mitfahren konnten, und man wohnte mit fünf Erwachsenen und vier Kindern in einer Sechszimmerwohnung. Heute wohnt in der gleichen Wohnung eine Kleinfamilie, und der Multivan-Bulli ist teurer als ein Mercedes S-Klasse. Damals durfte jeder in Kreuzberg wohnen, der keine Angst vor Klo auf dem Gang, Ofenheizung und Türken hatte. Heute dürfen nur noch diejenigen in Kreuzberg wohnen, die das Geld dafür haben. …

Ich heule nicht dem Ausverkauf eines Lebensstils hinterher. So was passiert. Was mich allerdings ankotzt, ist, dass er äußerlich nachgeahmt, aber innerlich ausgehöhlt wird. Es ist, als ob die Neo-Kreuzberger sagen: Euren Lifestyle, den finden wir ganz fancy, nur die Sache mit dieser Solidarität, das haben wir noch nie verstanden, das lassen wir mal lieber weg. Die Dinkelmütter von damals haben Kinderläden und freie Schulen gegründet, die Dinkelmütter von heute pirschen sich am Kuchenstand auf dem Schulfest an die Direktorin ran, damit ihr Kind nicht nur auf die beste Schule, sondern auch in die beste Klasse mit der besten Lehrerin kommt. …

Dass der Wind sich dreht, habe ich zum ersten Mal vor ungefähr zwölf Jahren auf einem Kreuzberger Spielplatz bemerkt. Mein damals einjähriges Kind stritt sich mit einem anderen Kind um ein Sandkasten-Förmchen. Die Reflexe meiner eigenen Erziehung funktionierten einwandfrei, doch ehe ich sagen konnte: “Guckt mal, ihr könnt doch zusammen damit …”, rief die andere Mutter (die genauso aussah wie ich) ihrem Kind schon zu: “Jetzt lass dir doch nicht immer jedes Spielzeug abnehmen! Setz dich mal durch!” Ich blieb bestimmt zehn Minuten mauloffen im Sand stehen. Dass Durchsetzungsvermögen der neue Kreuzberger Soft Skill ist, wurde mir in den nächsten Jahren klar …

Mit grün im Sinne von umweltverträglich hat das, was wir in Kreuzberg veranstalten, ohnehin schon länger nichts mehr zu tun. Während Bine und ihre Freundinnen damals Yoga in der Volkshochschule gemacht haben, fliegen Julia und ihre Freundinnen ins Yoga-Retreat nach Thailand. Und was ist an einem VW-Bus eigentlich grüner als an einem SUV? Einfach mal Maße und Spritverbrauch vergleichen, schon bröselt einem das Selbstbild unter den Fingern weg.

Wahrscheinlich hätte ich gar nichts bemerkt von diesen Widersprüchen, wenn die Reichen brav auf ihren Golf- und Tennisplätzen geblieben wären und nicht auf Birkenstocks in meine Blase reingelatscht wären. …

Hab ich behauptet, ich wisse nicht, wo der Ausgang aus der Blase sei? Vielleicht weiß ich’s doch. Vielleicht bau ich mir eine Holzhütte auf dem Golfplatz, da ist ja keiner mehr. …”

aus: Tina Thoene: Früher war mehr Öko, ZEIT-Online, 21.8.19, im Internet.

Abb.: Britto Arts Trust, Dhaka, Bangladesh: Rassad, lokaler Basar und Supershop, Detail, Docuzmenta15, 2022.

08/19

25/08/2019 (0:18) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Geloof

(FR)

“Ik wilde omtrent de dingen, die ik niet zag, evenveel zekerheid krijgen, als ik had omtrent het feit, dat zeven en drie tien is. … Ik … begeerde … ook de andere dingen te weten, zowel het lichamelijke, dat niet voor mijn zintuigen waarneembaar was, als het geestelijke, waarover ik slechts in lichamelijke vorm kon denken. …

Door te geloven had ik genezen kunnen worden, zodat de blik van mijn geest, zuiverder geworden, in zekeren zin gericht zou zijn op Uw waarheid, die altijd blijft en in geen enkel opzicht faalt; maar mijn [zieke] ziel, die ongetwijfeld slechts door te geloven genezen kon worden, maar, om geen valse dingen te geloven, weigerde zich te laten genezen …

Vervolgens raakte Gij, Heere, langzamerhand … mijn hart aan en bracht het tot rust, doordat ik overwoog, hoe talloze dingen ik geloofde, die ik niet zag en die ik niet had zien gebeuren, zoveel in de geschiedenis van de volken, zoveel van landen en steden, dat ik niet gezien had, zoveel wat ik geloofde op gezag van vrienden, geneesheren en alle mogelijke andere mensen, zonder welk geloof wij in dit leven niets zouden kunnen doen, en eindelijk met hoe ongeschokt geloof ik vasthield, uit welke ouders ik geboren was, wat ik niet had kunnen weten, als ik het niet geloofd had van horen zeggen …
En zo overtuigde U mij ervan, … dat men niet moest luisteren naar hen, die wel tot me zeiden: ‘Vanwaar weet gij, dat die boeken door de Geest van de een waren en waarachtige God aan het menselijk geslacht geschonken zijn?’ Want juist dat was het, wat ik voornamelijk geloven moest!”

aus: Augustinus: Belijdenissen, Vijfde boek, hoofdstukken 4 en 5, vertaling door A. Siizoo, Middelburg: Ghihonbron 2010, S. 76/77 [im Internet]

Abb.: Gerald Trottier: Pilgrimage I, 1980, Ottawa Art Gallery, im Internet.

07/18

18/08/2019 (2:23) Schlagworte: Lesebuch,NL ::

Croyance

(NL)

“Je voulais avoir de ce qui ne se voit pas la même certitude que de sept et trois font dix. … J’avais la pretention de comprendre pareillement les autres vérités, qu’elles concernassent soit des corps qui ne seraient pas accessibles à mes sens, soit des réalités spirituelles dont je ne savais me faire qu’une conception matérielle.

Cependant je pouvais être guéri en croyant : purifié par la foi, le regard de mon esprit pouvait se diriger en quelque sorte sur votre vérité immuable et indéfectible. Mais … mon âme malade, qui ne pouvait trouver la guérison que dans la foi, de peur de croire à l’erreur, se réfusait de guérir. …

Mais peu à peu, Seigneur, … vous avez touché et préparé mon coeur, et je m’avisai de tout ce que croyais sans le voir, sans y avoir assisté : tant de faits de l’histoire des peuples, tant ds choses concernant des endroits et des villes que je n’avais pas vus, tout ce que j’admettas sur la foi d’amis, de médecins, de bien d’autres en qui il faut bien croire, sans quoi on ne ferait absolument rien en cette vie! Enfin, avec quelle foi inébranlable je me croyais le fils de mes parents! Mais c’est ce qu’il m’eût été bien impossible de savoir si je n’avais admis ce que j’entendais dire. …

Ainsi, vous m’avez persuadé que … je ne devais pas écouter les hommes qui me diraient : ‘D’où sais-tu que ces livres ont été données au genre humain par l’esprit du seul vrai Dieu qui est la Vérité même ?’ C’est précisément cela qu’il me fallait croire! …

Saint Augustin: Confessions. Livre sixième, chapitres iv et v, traduction par Joseph Trabucco, Paris: Flammarion 2008, S.123-125.

Abb.: Gerald Trottier: Pilgrimage I, 1980, Ottawa Art Gallery, im Internet.

07/18

18/08/2019 (2:10) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Wiedergutmachung

“[In Afrika] … haben sich zwei Strategien für den Umgang mit der eigenen Geschichte entwickelt. … Sie scheinen einander gleichzeitig zu ergänzen und zu widersprechen. … Wie um alles in der Welt soll man Wiedergutmachung oder Entschädigung unter einen Hut bringen mit Aussöhnung oder Vergebung für angetanes Unrecht? …

Der eine Vorschlag entspringt einer Geschichte Afrikas, die bereits ein gutes Stück zurück liegt, mit der Zeit an Virulenz verloren hat und durch die globalen Beziehungsgeflechte nur noch verschwommen wahrzunehmen ist: [der der Wiedergutmachung und Entschädigung]. Der andere Vorschlag hingegen – der der Vergebung und Versöhnung – verdankt seine Entstehung einer Heimsuchung, die derart gegenwärtig ist, dass sowohl Opfer als auch Gewalttäter noch am Leben und im Zwang zum Zusammenleben gefangen sind. … Die Opfer sind am Leben und brauchen eine Entschädigung, während ihre Folterer … weiterhin eine privilegierte Existenz fortführen. …

Die Geschichte der Sklaverei [muss] weiterhin das Gedächtnis der Welt beschäftigen … Der Sklavenhandel verursachte in weiten Teilen des Kontinents … einen Bruch der organischen wirtschaftlichen Systeme, [was] … später durch die Auferlegung kolonialer Prioritäten bei der Zulieferung von Rohmaterialien für Europas industrielle Bedürfnisse sowie die Ankunft multinationaler Konglomerate verschlimmert wurde. Diese Verwerfung muss – mindestens zu Teilen – zweifellos für die geradezu unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme dieses Kontinents heutzutage verantwortlich gemacht werden. …

Die politische Instabilität innerhalb der sogenannten Nationen [Afrikas] … [hat darüber hinaus] mit der Künstlichkeit, der schreienden Unlogik ihrer Grenzen zu tun … Deshalb ist es nur angemessen, wenn wir die Aufteilung des Kontinents jenen Untaten hinzufügen, die dem Ruf nach Entschädigung für Afrika zugrunde liegen. … Mein Problem hierbei ist allein die Tatsache, dass die afrikanischen Nationen seit ihrer Unabhängigkeit … ja durchaus die Möglichkeit gehabt hätten, diese besondere Untat … zu sühnen …

Kulturelle und spirituelle Vergewaltigung … haben unauslöschliche Spuren in der kollektiven Psyche und dem Identitätsempfinden der Völker hinterlassen, ein Prozess, der durch die aufeinander folgenden Wellen kolonisierender Horden praktiziert wurde, die die zusammenhängenden Traditionen brutal unterdrückten. … Die kulturelle und spirituelle Verrohung des Kontinents … wurde nicht allein durch die christlich-europäische Achse vorgenommen. Die arabisch-islamische Dimension ging ihr voraus, und die war in all ihren Ausformungen gleichermaßen verheerend. …

Was … ist … dieses Afrika, in dessen Namen Wiedergutmachung gefordert worden ist? … [Vielleicht] können wir uns einer akzeptablen Definition … derart nähern, dass die Opferrasse sich auszeichnet durch die Einzigartigkeit einer besonderen Erfahrung, die sonst niemand teilt. … Haben wir … auf dieser ‘Afrika’ genannten Landmasse auch solche, von denen wir ebenfalls Reparationen verlangen sollten? …

Abiolas Kampagne für die Reparationen wurde … bei einem Treffen der ‘Organisation Afrikanischer Einheit’ in Abuja 1992 aufgegriffen. … Dies wirft nun … einige ethische Fragen auf. Es muss nämlich eine moralische Grundlage für alle Bemühungen um Gerechtigkeit geben …

Das Thema der arabischen Teilnahme am Sklavenhandel wurde schließlich doch noch angesprochen. Als Mitglied des ‘Internationalen Komitees für Wiedergutmachung’ saß dort ein tunesischer Diplomat. … Er antwortete … mit dem Vorschlag, dass, ‘da wir doch alle Opfer kolonialer Unterdrückung sind’, in Solidarität gegen den gemeinsamen Unterdrücker zusammenarbeiten und … jenen Teil der uns aufspaltenden Geschichte einfach tilgen sollten. … – ‘Wir sind alle Afrikaner’ … ist ganz einfach ein Plädoyer für Ausnahmeregelungen …

Pflegt ein Marokkaner oder Algerier, ob nun in der ersten oder der zehnten Generation in den Vereinigten Staaten lebend auf die Frage ‘Wer bist du?’ zu antworten African-American? … Was ist afrikanisch an irgendeinem der Teile diese Kontinents, der auf arrogante Weise jeden Religionswechsel als einen Abfall vom ‘wahren Glauben’ ansieht, der gar mit der Todesstrafe zu sühnen ist? Was ist afrikanisch an religiöser Intoleranz und todbringendem Fanatismus? …

Beide Religionen fielen auf dem afrikanischen Kontinent ein und vernichteten … Religionen, die älter und in vielerlei Hinsicht humaner als die tatsächlichen Leitsätze der einfallenden Religionen waren. … George Hardy … resümiert …: ‘Der Islam begann das Werk der Zerstörung. Doch Europa leistete bessere Arbeit.’ … Nichts, was die islamischen Invasoren vorfanden, war ihnen heilig. …

Das Afrika, für das hier Wiedergutmachung gefordert wird, ist jenes Afrika, das unter der göttlichen Autorität der Götter des Islam und des Christentums, ihrer irdischen Vertreter und ihrer kommerziellen Sturmtruppen versklavt wurde. …

[Einige] afro-amerikanische Wissenschaftler …. [wollen] uns glauben machen …, dass die Lebensumstände der Sklaven unter den arabischen Sklavenbesitzern wesentlich humaner gewesen wären als unter den europäisch-amerikanischen. … Vermutlich würde … [das] aber nur diejenigen einbeziehen, die die Trans-Sahara-Route überlebt haben … Mir will es als anmaßend erscheinen, dem Praktiker eines entmenschlichenden Handels durch das Abwägen unterschiedlicher Grade der Misshandlung irgendeine Form der Absolution zu erteilen. …

[Wir sollten weiterhin] unsere Aufmerksamkeit auf den Häufungseffekt des gegenwärtigen sozialen Missmanagements auf dem Kontinent … lenken: wahrhaft ein Katalog der Desaster, die ihren Ursprung der verbrecherischen Art von Menschen verdanken und so jener Position Überzeugungskraft verleihen, nach der die Bewegung zur Wiedergutmachung unhaltbar ist – weil sie auf dem Kontinent Afrika selbst – unverdient geworden ist! … Wir können es uns … nicht leisten, die tagtägliche Wirklichkeit der brutalen Konflikte auf unserem Kontinent zu ignorieren – von denen einige … rassistisch bestimmt sind, wie der zwischen Senegal und Mauretanien zu Beginn der neunziger Jahre und noch mehr so der dauernde Konflikt im Sudan. … Die überlieferte Kultur des Sudan ist heute so gefährdet wie nie zuvor! … Im Sudan wird … noch immer andauernd eine Kultur vergewaltigt, so als ob Afrika sich zu den Schlachtfeldern des 13. und 14. Jahrhunderts zurückentwickelt hätte. Die Erinnerung an die Beziehungen der Sklaverei und das Erbe dieser Beziehungen bilden den Kern einer Anzahl heutiger Konflikte, und bis zur endgültigen Durchsetzung der Wahrheit … bleibt die Aussicht auf Versöhnung eine Schimäre. …

Von Wiedergutmachung zu reden … heißt sich der Frage stellen: ‘In wessen Namen?. … noch nie hat Straflosigkeit derart frei geherrscht wie in den Jahren der Raserei von Sanni Abachas Diktatur, jenes … Herren über jene Nation, die die Kampagne zur Wiedergutmachung für die Zeit der Sklaverei vorschlug, und die eine so rühmliche Rolle bei der Beendigung der südafrikanischen Sklaverei der Apartheid spielte! …

Ich habe einmal vorgeschlagen, die versklavenden Nationen sollten einfach die Schulden Afrikas erlassen, uns wir würden im Gegenzug die nicht in Zahlen zu bemessende Ungerechtigkeit erlassen, die dieser Welt durch dir heutigen Nutznießer des Sklavenhandels angetan wurde. … Die offensichtliche Antwort hierauf ist die: Es waren ja nicht die Regierungen, die versklavt wurden, sondern vielmehr die Völker, und gegen die Völker wird (und dies sowohl von ihren früheren wie auch ihren heutigen Herrschern) viel mehr gesündigt als dass die Völker selbst sündigten. … [Der Erlaß nationaler Schulden] bietet [aber] die Chance eines Neubeginns, setzt zugleich jenen immer wieder von den Regierungen angeführten Entschuldigungen ein Ende, wonach die Schulden für die Vernachlässigung der Wirtschaft oder den Kollaps der Entwicklung verantwortlich sind. …

In diesen bitteren Zeiten sollte Wiedergutmachung ebenso wie Mildtätigkeit zu Hause beginnen, und der Reichtum der Mobutus, der Babangidas, der Abachas, aber auch der de Beers, der Shell-Surrogat-Incs etc. des Kontinents sollte als Anzahlung verwendet werden, als Beweis einer internen moralischen Reinigung, die alle Forderungen nach weltweiter Entschädigung über jeden Zweifel erhaben machen würde. …

Bei einem entschlossenen Eintreten zum Schutz ihrer eigenen Leute wäre der Sklavenhandel schon an seinem Ursprung aufgehalten worden … Komplizentum … trübt, was eigentlich eine klare Unterscheidung zwischen Opfer und Täter sein sollte. …

Gerechtigkeit muss für alle gelten – oder überhaupt nicht.”

aus: Wole Soyinka: Wiedergutmachung, Wahrheit und Versöhnung. In: ders.: Die Last des Erinnerns. o.O.: Patmos 2001 (engl.Orig,. 1999), S.39-97.

Abb.: damali ayo: Communion, 2003, damaliayo.com.

07/19

05/07/2019 (17:34) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Mémoire

“Dans un de ses derniers ouvrages, le philosophe Régis Debray a eu cette phrase : « Les gens du “street art” font de la rue une galerie, Ernest en fait une œuvre d’art. » J’en suis touché, mais, moi qui doute toujours, je suis aussi un peu insatisfait. Il y a là pour certains un effet de mode. On entend parfois parler de « la plus grande galerie du monde ». Alors que moi, j’aborde d’abord la rue d’un point de vue plastique, avec la couleur des murs, leur texture, et ce qui ne se voit pas ou plus, c’est-à-dire la mémoire des lieux. Il s’agit alors d’élaborer des images en faisant remonter à la surface des souvenirs enfouis, pour mieux comprendre le présent. …

La rue est un des éléments de ma palette. Sachant que toujours mes interventions viennent à réinscrire l’histoire humaine sur place. Les gens passent tous les jours dans une rue, même chargée d’histoire, mais pour eux, forcément, elle se banalise. Et d’un coup, l’apparition de l’image la fait découvrir à nouveau. En fait, cette redécouverte, cet appel à l’intelligence collective, c’est le rôle de la poésie et de l’art. …”

aus: Ernest Pignon-Ernest: “Mes interventions visent à faire ressurgir l’histoire d’un lieu”, Interview mit Gérald Rossi, L’Humanité, 29.05.2019, im Internet, und hier gemirrorred

“Que l’émotion que l’on ressent soit inséparable de l‘histoire des lieux… Je suis très inquiet par cette amnésie généralisée de l’ensemble de la société.”

Zitat aus: Olivia Gesbert: Ernest Pignon-Ernest, ecce l’artiste !, France Culture, 31.5.19, im Internet

06/19

02/06/2019 (0:57) Schlagworte: FR,Lesebuch ::

Grüne 1979

“Die letzten vier Jahrhunderte waren – in Europa – von dem Versuch geprägt, die Geschichte zu planen und die Natur in den Griff zu bekommen. Heute ziehen viele einen Strich, bilden eine Zwischensumme und zweifeln an der Durchführbarkeit ihrer Projekte; immer mehr fürchten sogar, daß der Mensch sich in krampfhafter Selbstüberforderung rettungslos verbiege .. Das nenne ich die drei Zweifel am Ende der “Neuzeit”. …

In Berlin erhielt, so die Fakten, eine ‘Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz’ 47543 Stimmen = 3,7%. …

Die ‘Alternativen’ graben den moskautreuen Kommunisten das Wasser ab; viele politisch nichtgebundene Bürger, die den großen Parteiapparaten  (und der FDP) nicht oder nicht mehr vertrauen, lassen sich auch durch offenkundigen K-Einfluß (hier: die KPD) nicht von einer Wahl solcher Gruppen abschrecken; und die ‘Alternativen’ schwächen weit stärker das Wählerpotential von SPD (eingeschränkt: auch FDP) als das der CDU. …

“Es wächst der Eindruck”, formuliert H.-E. Richter, “daß die großen Parteien sich immer mehr aneinander angleichen, nur noch Parolen, aber keine Ideen mehr hervorbringen. … Weiterhin scheinen die Parteien … mit einer attraktiven Selbstdarstellung, immer weniger indessen damit beschäftigt zu sein, was die Bürger wünschen und denken.” … Ich sage ohne Umschweife, daß ich diese Analyse von Richter für richtig halte. …

Bei den knappen Mehrheitsverhältnissen zwischen Konservativen und Sozialliberalen ist es für die Linke auf die Dauer eine tödliche Gefahr, wenn zwischen drei und fünf Prozent ihres Potentials auf Dauer ausfielen, wenn z.B.. 20 oder 30% einer ganzen Generation sich daran gewöhnen, ‘alternativ’ oder gar nicht zu wählen. …

Wenn jene 50 oder 60% der hier symbolisch diskutierten 50000 Berliner Alternativ-Wähler, die nicht von vorneherein fundamentaloppositionell eingestellt sind, zurückgewonnen werden sollten (ich rede als Sozialdemokrat), dann muß die Sozialdemokratie erkennen lassen, daß sie die ‘drei Zweifel am Ende der Neuzeit’ jedenfalls verstanden hat.”

aus: Peter Glotz: Staat und alternative Bewegungen. In: Jürgen Habermas: Stichworte zur “Geistigen Situation der Zeit“. Bd 2, Frankfurt(Main: Suhrkamp 1979, S.476-482

05/19

29/05/2019 (16:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Historischer Materialismus

“… was jeder Passant längst verstanden hat: daß es keinen Weltgeist gibt; daß wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen; daß auch der Klassenkampf ein ‘naturwüchsiger’ Prozeß ist, den keine Avantgarde bewußt planen und leiten kann; daß die natürliche Evolution kein Subjekt kennt und daß sie deshalb unvorhersehbar ist; daß wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen; und daß die Krise aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund hat. Die Projekte des 19. Jahrhunderts sind von der Geschichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden.”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang. In: ders.: Politische Brosamen. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1985 (ursprünglich in Kursbuch 52, 1978), S.234/235.

05/19

29/05/2019 (16:10) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Blasphemie

“‘Du sollst keine andere Jeans haben neben mir’ … – Nicht der Werbeslogan, der das erste Gebot benutzt, ist Blasphemie, sondern alle Reklame. Jeder Versuch, meine Lebensinteressen zu richten auf Haarspray, Katzenfutter und Ibizareisen, ist eine Attacke auf den, nach dessen Bild ich geschaffen bin.

Consumismo‘ bedeutet: meine Augen werden unaufhörlich beleidigt, meine Ohren verstopft, meine Hände ihrer Kreativität beraubt. … Wenn alles sich im Haben ausdrückt und mißt, bleibt keine Zeit, keine Kraft, keine Sprache für das Miteinandersein. …

Nicht mehr die Ware, sondern das Verkaufsgeschehen selber steht im Mittelpunkt der Werbung, es wird lustvoll besetzt. Immer unverständlicher wird dabei jenes Hauptmoment, mit dessen Hilfe die religiöse Tradition das Glück zu beschreiben versuchte, als Erfahrung von Gnade. ..

Gnade ist ein Konzept, das die Tiefe unseres möglichen Glücks beschreibt. … Wenn ich eingewilligt habe in das große Ja und eingeübt werde in den Kampf gegen den Zynismus, dann mache ich eine Erfahrung, die allem wirklichen Glück zugrunde liegt … Ich bemerke, daß es nicht meine Leistung war, die mich in diesen Zustand gebracht hat … Jedes wirkliche Ja ist antwortend, ist responsiv, und dieser responsive Charakter gehört zur Erfahrung von Glück überhaupt. Glück ist … Integration in das Spiel von Nehmen und Geben und nicht bloßes Nehmen, Bekommen, Sich-Aneignen oder reines Handeln, Machen oder Geben. Es ist Gnade, und je mehr Gnade in einem Glück erfahren wird, desto tiefer ist es. …”

aus: Dorothee Sölle: “Du sollst keine andere Jeans haben neben mir”. In: Jürgen Habermas: Stichworte zur “Geistigen Situation der Zeit“. 2. Bd., Frankfurt (Main): Suhrkamp 1979, S.549-552.

Abb.: ?, ähnlich: Brandalism, 2017, im Internet.

05/19

28/05/2019 (22:23) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Rechte 1

“Aus unserer Sicht haben die Rechten ein gewaltiges Identitätsproblem. Sie kreisen unentwegt um die Frage, was und wer sie sind …

Am Anfang des rechten Identitätskomplexes steht fast immer Enttäuschung. … Irgendwer oder irgendwas verweigert mir das Leben und die Anerkennung, die ich verdiene.

Nur, wer kennt das nicht? … Enttäuschungen dieser Art [sind] kein Privileg der Rechten. … Was folgt aus solchen Erfahrungen? … Die Einsicht, dass die Suche nach einem Platz in der Welt immer ein Problem darstellt, und zwar angesichts der Größenverhältnisse eher für mich als für die Welt. … Es heißt …, dass ich Mittel und Wege finden muss, um mir die Welt anzueignen, … mich in den Verhältnissen einzurichten. … Die ‘Welt’ oder die ‘Verhältnisse’ … sind … zuallererst die anderen. Und die sind nun mal anders als man selbst. Genau wie ich wünschen sie sich, in ihrem Sein anerkannt zu werden und ihre Möglichhkeiten entfalten zu können, aber ihr Sein und ihre Möglichkeiten sind eben nicht die gleichen wie meine. …

Die Rechten werden erst dadurch zu Rechten, dass sie sich genau dieser Einsicht verweigern. Die anderen, sagen sie, sind nicht die Welt. Sie sind die Hölle. Die Rechten verhalten sich tatsächlich so, als hätten sie Sartres ‘Geschlossene Gesellschaft’ wie einen Ratgeber gelesen, oder den ‘Don Quichote’ wie einen Heeresbericht. …

Wenn die Verlagerung ihres Identitätsproblems für uns – die anderen – nicht so problematische Konsequenzen hätte, könnte man sich ausschütten vor Lachen oder Tränen des Mitleids vergießen über erwachsene Menschen, die sich statt in der Welt im Widerspruch zu ihr eingerichtet haben. Genau das tun sie aber, und zwar allein dadurch, dass sie sagen: Mein Problem, das seid ihr. … Pubertät sozusagen. als Lebensform. …

Unser Problem mit euch ist … gar kein moralisches. Vielmehr sehen wir mit Staunen, wie ihr euch laufend in euer eigenes Problem hineinmanövrieert … Um das Nein der anderen zu provozieren, macht ihr euch ständig zum Arschloch. Um das Nein der anderen abzuwehren, macht ihr euch ständig zum Opfer.” “Ihr lauft im Hamsterrad.””

aus: Per Leo / Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Ein Leitfaden. Stuttgart: Klett-Kotta 2017, S.29-109.

05/19

18/05/2019 (1:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Minderheiten

“Warum schreibst du
noch immer
Gedichte
obwohl du mit dieser Methode
immer nur
Minderheiten erreichst

fragen mich Freunde
ungeduldig darüber
daß sie mit ihren Methoden
immer nur
Minderheiten erreichen

und ich weiß
keine Antwort
für sie

Erich Fried: Sprachlos. aus: Was soll und kann Literatur verändern? (1983). Hier in: Ders.: Die Muse hat Kanten. Berlin: Wagenbach 1995, S.78.

05/19

11/05/2019 (19:07) Schlagworte: DE,Lesebuch ::
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