Postkolonialismus 3
“Die postkoloniale akademische Linke hat verschiedene Theorien und Ideenschulen, von denen einzelne durchaus inspirierend sind und dem Denken einen produktiven, neuen Horizont eröffneten – aber sie hat diese zu manichäischen Wahnideen radikalisiert.
Die Welt wird in Unterdrücker und Unterdrückte geteilt und in diesen simplen Weltbildern hat der als ‘Unterdrückter’ Identifizierte immer Recht. Da Unterdrücker nie die Erfahrungen der Unterdrückten nachvollziehen oder auch nur verstehen können, muss vor allem den Unterdrückten immer Recht gegeben werden.
Von da ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt zum letzten Klick: Die Palästinenser sind ‘schwarz’ (also ‘People of Color’, um exakt zu sein), die Juden sind weiß, und in Israel noch dazu Büttel des US-Imperialismus, also Unterdrücker. Auch wenn man nicht alles als richtig empfinden kann, was die Hamas tut, ist es ein authentischer Ausdruck des Widerstands der Unterdrückten gegen das System der Unterdrückung und damit auf höhere Weise ‘richtig’. Israel dagegen ist ein weißes ‘siedler-kolonialistisches’, imperiales Projekt.
Da natürlich auch die Idee des freien Diskurses selbst eine bürgerliche Ideologie ist, die nur erfunden wurde, um die herrschende Macht zu stützen, soll man abweichende Ansichten delegitimieren oder zur Not niederschreien. Denn was ‘sagbar’ und ‘nicht-sagbar’ sein soll, ist einfach selbst ein Machteffekt. Und wenn man dafür sorgt, dass Ansichten, die die Unterdrückung stützen, nicht mehr gesagt werden, dann ist ein kleiner Schritt zur Befreiung schon gemacht. So wie in Deutschland jede Kritik an Israel als ‘antisemitisch‘ bezeichnet und damit als moralisch verdammenswerte Haltung kompromittiert wird, so wird auf der anderen Seite die Verteidigung des Existenzrechts Israels als Ausdruck von ‘Rassismus‘ niedergemacht.
Inmitten dieses Dogmatismus hat man den Eindruck, dass die ganze Welt verrückt geworden ist. Während Deutschland Israel bedingungslos unterstützt, da das als Imperativ der eigenen Schuld und des Ausrottungs-Antisemitismus angesehen wird, sind in den amerikanischen, britischen und anderen Diskursen ebenso die Imperative eigener Geschichtspolitik prägend: Rassismus, der Genozid an den indigenen Bevölkerungen, die Versklavung der Schwarzen, imperiale Ausbeutung. Bruchstücke des Realen werden willkürlich verwendet und in das Schema der eigenen Erinnerungspolitik gepresst, für die in diesem Fall der Begriff ‘Identitätspolitik‘ wirklich passend ist.
Meistens hat das alles weniger mit realen Palästinensern und realen Israelis zu tun als damit, wer und was man sein will – wie man die Welt und sich selbst in ihr sehen will. Man gibt sich als heldenhafter Kämpfer gegen Antisemitismus oder gegen Rassismus und Kolonialismus, während die äußeren Gegebenheiten der Realität allenfalls zum Bühnenbild für diese Selbstinszenierung werden, zu Requisiten in einem Theaterstück, dem die Realität angepasst werden muss. …”
aus: Robert Misik: Eingeschränkte Sicht, IPG-Journal, 23.2.24, im Internet.
Abb.: Amy Swart: Pest, 2011, Detail, im Internet.
02/24