“Manche Babyboomer pflegen einen selbstzufriedenen Rückblick auf ihre Jugend. Hach, waren wir rebellisch! Hach, was hatten wir für tolle Musik! Ach, wie traurig muss es sein, heute jung zu sein, mit der ganzen Angst vor Klimawandel, Krieg, KI und so weiter. Ich aber würde sofort tauschen.
Um mit der Musik zu beginnen: Abgesehen davon, dass die tolle Musik der Beatles und Stones, Kinks, Who, Dylan, Byrds usw. usf., von den schwarzen Bluesern ganz zu schweigen, in Europa kaum irgendwo zu hören war – in Großbritannien auf Radio Luxemburg und so genannten Piratensendern in der Nordsee, bei uns in West-Deutschland auch auf Radio Luxemburg, wenn man ein FM-Radio hatte und lange genug aufblieb, und sonst nur dort, wo man die Soldatensender AFN oder BFN hören konnte, und auch da nur zu bestimmten Tageszeiten – und dass man ungeheuer viel Mist von Peter Alexander oder Engelbert Humperdinck über sich ergehen lassen musste, bis man in irgendeiner Schlager- oder Hitparadensendung endlich etwas Vernünftiges hören konnte; abgesehen also davon, dass wir die Musik ja eben nicht ‘hatten’: Die wirklich tolle Musik war ja auch deshalb so toll, weil sie Protest war gegen die Zeiten, die so finster waren. …
Der Rock’n’Roll hatte zwar den Einbruch des Lustprinzips in die formierte Gesellschaft angekündigt, aber das angeschlagene Leistungs– und Konsumprinzip hatte sich gefangen, hatte aus Rock-Rebellen Familienväter, aus der Revolte einen Stil gemacht, was, wie George Melly feststellt, die Grundfunktion des Jugendprotests in der Marktwirtschaft ist. Aber das wussten wir ebenso wenig wie es heute die Leute von ‘Fridays For Future’ usw. ahnen.
Der Kalte Krieg tat ein Übriges, um die Aufsässigkeit im Zaum zu halten. Elvis ging in die Armee; und als ich mir sieben Jahre später aus Begeisterung für die Beatles die Haare über die Ohren wachsen ließ, wurde ich nicht nur von den älteren Jungen meines deutschen Internats mit Scheren gejagt, sondern musste mir vom sozialdemokratischen Rektor dieser Reformschule eine Predigt anhören, der zufolge die Kommunisten nur auf solche Zeichen der Dekadenz warteten, um uns einzusacken. …
Aber ich schweife ab. Man sagt, in den 1960ern habe eine sexuelle Revolution stattgefunden; aber die Revolution war nur deshalb nötig, weil die sexuellen Zustände so repressiv waren. … Und für Frauen und Mädchen hundertmal repressiver als für Jungen und Männer. Später haben die Pille und der Minirock, kurzum die Leistungs- und Konsumgesellschaft, dem Lustprinzip Geltung verschafft; aber es war für junge Mädchen in den 1960er Jahren fast unmöglich, an die Pille heranzukommen. Weder Jungen noch Mädchen wussten genau, wie Sexualität funktioniert, und das Ganze war so mit Angst vor Schwangerschaft und Entdeckung, mit Tabus und Ekel, Mythen und Lügen besetzt, dass es eigentlich ein Wunder ist, dass wir nicht alle noch viel verklemmter waren und sind.
Und eben kein Wunder, dass ein Song, in dem es immer wieder hechelnd heißt, ich versuche, versuche, versuche, aber ich kriege keine Befriedigung, zum Schlachtruf – oder zum orgiastischen Sammelruf – einer ganzen Generation wurde. …
Und verstanden doch den Song falsch. Denn allenfalls in der dritten Strophe geht es um die sexuelle Befriedigung. … Jagger sagt aber auch irgendwo, das Thema des Songs sei gar nicht der Sex, sondern die ‘Entfremdung’. Und da hat er natürlich, wie meistens, Recht.
Denn in der ersten Strophe geht es um ‘nutzlose Information‘ im Radio, deren Zweck nur darin bestehe, ‘meine Fantasie zu befeuern’; und in der zweiten um die Fernsehwerbung … Es geht also um das, was Theodor Adorno die ‘Bewusstseinsindustrie’ nannte, um die Manipulation unserer Bedürfnisse durch die Medien. … Es geht, der dritten Strophe zum Trotz, nicht um die Unmöglichkeit, Sex zu haben, sondern um die existenzielle Unmöglichkeit, in der Konsumgesellschaft wirkliche Befriedigung zu finden.”
aus: Alan Posener: Das Jagger-Richards-Songbuch (13): Satisfaction, starke meinungen de, 21.9.23, im Internet.
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