“‘Links‘ war immer der Kampf um Gleichheit, Wokeness ist dagegen der um Ungleichheit. Übrigens ist der Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit nicht erklärungsbedürftig – den verstehen alle, inklusive seiner Gegner. Weil es eben um Materielles geht, um die Existenzlage und die mit ihr verbundenen Chancen auf ein gutes Leben. Während das meiste im heutigen sogenannten linken Spektrum Insiderthemen für Menschen sind, die hauptsächlich auf Kämpfe um das Symbolische fixiert sind, weil die kostenlos sind und weder Anstrengung kosten noch Karrierechancen verbauen, aber dafür Distinktionsgewinne erlauben.
Die Ersetzung sozialer Kämpfe durch symbolische findet im Rahmen eines historischen Zeitraums statt, der durch Deregulierung der Märkte, Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich Wissenschaft, Kultur und Biosphäre sowie der Magisierung von Wachstum und Individualisierung gekennzeichnet war und ist. …
Da passt dann plötzlich wieder alles zusammen und findet seine friedliche Koexistenz im Universum der Bullshit-Wörter, die vom Quatsch der ‘hart arbeitenden Bevölkerung’ über den ‘internationalen Wettbewerb’ bis zur ‘Augenhöhe’ reichen, vom ‘Menschen mitnehmen’ bis zu ‘da bin ich ganz bei dir!’ Tatsächlich übernimmt der inflationäre Wortmüll, der aus BWL-Sprech, Therapiejargon und Gleichgültigkeit gegenüber aller Ungerechtigkeit wie von ChatGPT zusammengequirlt scheint, die Funktion der allgemeinen Entpolitisierung oder anders gesagt: die Ersetzung des Politischen durch – Haltung. …
Haltung ist genauso wie Moral eine Kategorie der Vergemeinschaftung, sie gestattet, unbelastet von früher formulierten Ansprüchen durchzukommen und seine Überzeugungen damit zu synchronisieren, was gerade in der Eigengruppe Konjunktur hat. Haltung kann man schon haben, bevor man auch nur das Geringste verstanden hat, Haltung suspendiert von der Anstrengung, sich mit Argumenten zu befassen, die von jemandem kommen, den man schon aus Gründen der Haltung ablehnen muss. Und vor allem: Haltung kann man heute in Bezug auf dieses und morgen auf sein Gegenteil haben, vorausgesetzt, sie ist in der Eigengruppe mehrheitsfähig. …
Wir haben uns das Weiterdenken abgewöhnt. Uns fehlen die Begriffe zur Beschreibung jener Verhältnisse, in denen unter Bedingungen der Folgen der Erderhitzung und des Artensterbens sich die sozialen Beziehungen so verschärfen, dass autoritäre und totalitäre Politikangebote mehrheitsfähig werden. Das war übrigens schon die Kernaussage der Grenzen des Wachstums – und so wenig sich die Wirtschaftswissenschaften um die Entwicklung einer Ökonomie der Endlichkeit bemüht haben, so wenig haben sich die Sozialwissenschaften um eine Gesellschaftstheorie der Endlichkeit gekümmert. Deshalb haben alle, die weiterdenken wollen, immer nur diese Post-Begriffe: postfossil, Postwachstum, postkolonialistisch, postkapitalistisch – nichts könnte die Theorielosigkeit der Gegenwart besser illustrieren als diese begrifflich gewordenen Hilflosigkeiten des Denkens. …
Die entstehen dann, wenn man es vorzieht, in seinem Denken und Handeln genügsam zu sein – sich also nur so weit in Anspruch zu nehmen, wie es reicht, um bequem mit seinesgleichen durchzukommen. Aber hilft ja nix: In dieser Genügsamkeit wird die Welt nur verschieden interpretiert, und das meistens auch noch ziemlich schlecht. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.”
aus: Harald Welzer: Bitte weiterdenken! Taz online, 5.3.24, im Internet.
Abb.: Dirk Hülstrunk: Büro für überflüsseige Worte. Ein poetisch-bürokratisches Projekt, im Internet.
03/24