“Dass diese Parteien ihre Politik und Rhetorik gemäßigt haben, spiegelt die grundlegende Stärke der Demokratie in Westeuropa wider. Wenn diese grundlegende Annahme nicht beachtet wird, hat das diverse Konsequenzen.
[1] Erstens wird dadurch Angst und Polarisierung verstärkt. Eine Partei als faschistisch zu bezeichnen, obwohl sie es nicht ist, erzeugt Panik bei denen, die die Partei nicht unterstützen – und Verbitterung bei denen, die sie unterstützen. Wenn sich Angst und Polarisierung erst einmal festgesetzt haben, ist es nur allzu leicht, dass sich diese Trends verstärken. Dies kann zu einer allmählichen Schwächung der demokratischen Normen und Institutionen führen, die bisher einen Schutzwall gegen Extremismus bildeten.
[2] Zweitens hat es sich in Bezug auf Wählerstimmen als ineffektiv erwiesen, eine Partei faschistisch zu nennen, wenn sie es nicht ist. … Viele der Wählerinnen und Wähler … wollen nicht die Demokratie an sich stürzen, wie es zum Beispiel die Faschisten der Zwischenkriegszeit wollten. Die Wähler und die Parteien, die sie unterstützen, als faschistisch zu bezeichnen, verstärkt daher oft nur die Ressentiments gegenüber ‘Establishment-Parteien’ und untermauert die Selbstdarstellung, missverstandene … ‘Außenseiter’ zu sein, die doch nur das Beste für das Land wollen.
[3] Drittens: Parteien als faschistisch zu bezeichnen, wenn sie es nicht sind, trägt zu Missverständnissen über den Zustand der heutigen Demokratie bei. Keine Frage, in den Ländern, die im späten 20. Jahrhundert zur Demokratie übergegangen sind, hat es sicherlich teils erhebliche Rückschritte gegeben. Das ist historisch gesehen aber nicht ungewöhnlich oder überraschend: Bei allen früheren demokratischen ‘Wellen’ – beispielsweise 1848 und nach dem Ersten sowie Zweiten Weltkrieg – gab es im Nachgang beträchtliche Rückschritte. Nichtsdestotrotz haben viel mehr Demokratien die Welle des späten 20. Jahrhunderts überlebt als die vorherigen. Hinzu kommt: Von den länger etablierten, reichen Demokratien hat nur eine – die der USA – in letzter Zeit einen signifikanten Demokratieverfall erlebt.
Es ist bemerkenswert, dass demokratische Normen und Institutionen sogar in Ländern wie Italien Bestand haben, wo die Wirtschaft seit Jahrzehnten stagniert und das traditionelle Parteiensystem schon vor längerer Zeit implodiert ist. Gleiches gilt für Griechenland, das in den 2000er und 2010er Jahren eine tiefere Weltwirtschaftskrise erlebte als die, die viele Demokratien in den 1930er Jahren zu Fall brachte. Ähnlich beeindruckend ist die Entwicklung der Demokratien in Spanien und Portugal. …
[4] Viertens: Wenn wir mit dem Begriff ‘faschistisch’ um uns werfen und Ängste vor einem demokratischen Niedergang schüren, verpassen wir die Chance, positive Entwicklungen zu fördern. Das Verhaltensmuster in Richtung Mäßigung unter westeuropäischen Rechtsparteien anzuerkennen, bedeutet nicht, das Potenzial für zukünftige Probleme zu ignorieren oder herunterzuspielen. So hat sich zum Beispiel die Republikanische Partei in den USA in die entgegengesetzte Richtung entwickelt als die meisten ihrer westeuropäischen Pendants: Sie hat sich von einer Mitte-rechts- oder konservativen Partei zu einer rechtsradikalen Kraft entwickelt. …
Es ist durchaus möglich, dass die Mäßigung von Parteien wie Rassemblement National, Fratelli d’Italia und Schwedendemokraten rein taktischer Natur ist. Tief in ihrem Herzen mögen die Anführer dieser Parteien weiterhin antidemokratische Bestrebungen hegen. Aber jeder, der an einer Stärkung der Demokratie interessiert ist, sollte dafür plädieren, rechte Parteien weiterhin auf einen gemäßigten Kurs zu drängen – beziehungsweise endlich einen solchen Druck auf Parteien wie die AfD aufzubauen, die tatsächlich ein sehr zweifelhaftes Bekenntnis zur Demokratie ablegen.
Diesen Druck aufzubauen, ist aber nicht möglich, wenn die Idee einer Mäßigung belächelt oder als unmöglich abgetan wird, anstatt sie zu fördern und zu honorieren. Wenn die heutigen Rassemblement National, Schwedendemokraten und Fratelli d’Italia mit den Faschisten und Nationalsozialisten der Zwischenkriegszeit gleichgesetzt werden – also mit Parteien, die nie einen Hehl aus ihrem Wunsch gemacht haben, die Demokratie zu stürzen, und deren gewalttätiges Verhalten niemals durch ihre Teilnahme an Wahlen gemildert wurde –, dann verpassen die Demokraten die Chance, diejenigen Menschen in diesen Parteien zu stärken, die glauben, dass Mäßigung die beste Vorgehensweise für sie ist.
Abschließend: Bei der Beurteilung der Frage, wie man auf rechtspopulistische Parteien reagieren soll, ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen Politik, die man nicht mag, und Politik, die die Demokratie bedroht. Politische Haltungen und Programme, die man ablehnt, kann und sollte man mithilfe von Wahlen, der Zivilgesellschaft, der Presse und all den anderen Mitteln bekämpfen, die die Demokratie bietet. Solange Rechtspopulisten die Gesetze, Verfassungen und die demokratischen Spielregeln respektieren, ist es der beste Ansatz, die Wählerinnen und Wähler mit besseren Ideen von diesen Parteien wegzulocken. Je erfolgreicher es den demokratischen Parteien gelingt, die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass sie die besten Lösungen für die Probleme unserer Zeit haben, desto mehr werden die Rechtspopulisten sich gezwungen sehen, sich zu mäßigen – und desto stärker wird die Demokratie.”
aus: Sheri Berman: Mäßigung als Erfolg, IPG-Journal, 15.8.23, im Internet.
08/23