“Europäische Stadtgeschichte ist Emanzipationsgeschichte. … Emanzipation des Wirtschaftsbürgers, des Bourgeois, aus den geschlossenen Kreisläufen des ganzen Hauses zur offenen Organisation der Ökonomie als Marktwirtschaft, und des politischen Bürgers, des Citoyen, aus feudalistischen Herrschaftsverhältnissen zur Selbstverwaltung einer Stadtgemeinde freier Bürger. …
… die Europäische Stadt [ist] Ort einer besonderen, eben urbanen Lebensweise, die den Stadtbewohner vom Landbewohner unterscheidet. … [Sie ist gekennzeichnet durch die] Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit … [Die Grundregel der öffentlichen Sphäre ist], Distanz zu wahren. Demgegenüber ist die Wohnung… der Ort des Privaten, wo sich die Individuen mit all ihren Eigenschaften und Rollen vertraut sind. Ihre Grundregel ist Unmittelbarkeit. …
Die Größe ihrer Bevölkerung, die Dichte ihrer Bauweise und die Mischung der sozialen Gruppen und der städtischen Funktionen, das unüberschaubare und enge Mit- und Nebeneinander von Arm und Reich, Jung und Alt, Zugezogenen und Eingesessenen, von Arbeiten, Wohnen, Vergnügen und Verkehr macht die europäische Stadt zum Ort der Kommunikation, der Arbeitsteilung, der Erfahrung von Differenz, der produktiven Auseinandersetzung mit dem Fremden und damit zum innovativen Ort im Gegensatz zur ‘Idiotie des Landlebens‘ (Marx). …
Voraussetzung für das Funktionieren kommunaler Selbstverwaltung ist die Stadt als Einheit des Alltags ihrer Bürger. Heute aber organisieren mehr und mehr Bürger ihren Alltag automobil über verschiedene Gemeinden hinweg. Man wohnt in A, arbeitet in B, kauft ein in C und fährt durch D mit dem Auto. Also sehen sich die Gemeinden Kunden gegenüber, die sehr spezifische Leistungen verlangen: von A ungestörtes Wohnen, von B einen expandierenden Arbeitsmarkt, von C genügend Parkhäuser in der Fußgängerzone und von D Schnellstraßen. …
Die Gesellschaft, die die Gestalt der traditionellen europäischen Stadt hervorgebracht hat, existiert nicht mehr. Deshalb verschwindet diese Gestalt auch im Siedlungsbrei der großen Agglomerationen. Sie wieder herstellen zu wollen, wäre der aussichtslose Versuch, die Hülle der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts ohne diese Gesellschaft bauen zu wollen. …
In dem Maße, wie die Stadt nicht mehr politisch, ökonomisch und sozial besonderer Ort ist, lößt sich auch ihre Gestalt auf. … An die Stelle der zentralen Kernstadt und eines abhängigen Suburbia tritt mehr und mehr ein regional und dezentral organisiertes, netzartiges Geflecht eigenständiger Gemeinden. …
… der Ruf nach Kreativität, den so viele Stadtplaner anheben, wenn ihnen die Rettung der europäischen Stadt am Herzen liegt, [hat] etwas vom Pfeifen im Wald. Mit einfallsreichen Plänen und verführerischen Visionen lassen sich strukturelle Entwicklungen nicht umkehren. Das gelingt nur, wenn Gegensteuerung auf Gegenkräfte setzen kann. Welche könnten das sein …? …
… die Triebkräfte der Suburbanisierung [scheinen] schwächer zu werden. Suburbanisierung ist ein Familienmodell. Sie wird wesentlich getragen von der Nachfrage junger Familien nach mehr Wohnfläche im Eigentum. Der Anteil der Zweigenerationenhaushalte an allen Haushalten geht aber zurück. … Die Lebensweisen verändern sich. Die Zahl der neuen Haushaltstypen, der Singles, der unverheiratet zusammenlebenden Paare, der Wohngemeinschaften und Alleinerziehenden wächst. Sie sind weniger am Eigenheim im Grünen interessiert. … An die Stelle des traditionellen Haushalts als Reproduktionsbasis und back-stage treten die Stadt als Versorgungsapparatur sowie das Angebot billiger und williger Haushaltsbediensteter aus den innerstädtischen Migrantenquartieren. Das Nebeneinander aufgewerteter und heruntergekommener Wohngebiete innerhalb der Stadt kann also durchaus auch funktional sein …
Indem … [historische Bausubstanz] an die abgelebten Möglichkeiten städtischen Lebens erinnert, hält sie das Wissen wach, dass auch die gegenwärtige städtische Realität nur eine von vielen Möglichkeiten städtischen Lebens darstellt. Historisch überkommene Gebäude halten Distanz zu ihren aktuellen Nutzern und Nutzungen. Damit schaffen sie Möglichkeitsräume, Spannungen zwischen verschiedenen möglichen Deutungen …”
aus: Walter Siebel: Einleitung. In ders.: Die europäische Stadt, Frankfurt (Main): Suhrkamp, 2004, S. 13, 14, 16, 23, 35, 40, 41, 44 , 45, 50
Abb.: Safwan Bashir: ohne Titel, im Internet.
06/09