MALTE WOYDT

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Real Existierender Sozialismus

“… Das sozialistische Lager, die Staatshandelsländer, der Weltkommunismus, die Zweite Welt, die staatskapitalistischen, die monopolbürokratischen, die postkapitalistischen Gesellschaften … Alle diese spröden Bezeichnungen werden von jenem genialen Ausdruck weit in den Schatten gestellt, den die Gemeinten, nach jahrelanger Suche, endlich für sich selber geprägt haben: ich meine die Rede vom Real Existierenden Sozialismus. …

Nur jemand, an dem der Zweifel nagt, kann permanent beteuern, daß er wirklich existiert; und es macht den hintergründigen Charme dieser parteiamtlichen Wortschöpfung aus, daß ein solcher Zweifel nur allzu berechtigt ist. …

Die Rede vom Real Existierenden Dingsda ist … affirmativ und resignativ zugleich; das erste, indem sie behauptet, daß es den Sozialismus leibhaftig gebe, daß der Messias, der langersehnte, längst unter uns weile; das andere, indem sie uns zu verstehen gibt, daß es damit aber auch sein Bewenden haben müsse, mehr sei nicht drin: dies an die Adresse jener Spinner, Träumer und Utopisten, die noch immer nicht begriffen haben, daß der Sankt-Nimmerleins-Tag ihrer Hoffnungen längst verflossen ist.

Wer hätte, von einem namenlosen Autor in der Propaganda-Abteilung des ZK der KPdSU, eine solche Glanzleistung erwartet! Wenn ich es gleichwohl riskiere, eine Verbesserung seines Glücksfunds vorzuschlagen, so habe ich dafür zwei Gründe. Erstens hat das Wort Sozialismus eine ehrwürdige Vergangenheit, und es scheint mir nicht ganz fair, diejenigen, die es in die Welt gesetzt haben, post festum zu düpieren; die militanten Handwerksburschen und die bärtigen Propheten, die Wanderprediger und die Flüchtlinge, die hochherzigen Studenten und die entschlossenen Streikführer des neunzehnten Jahrhunderts haben sich ihre Nachfolger nicht ausgesucht, und ich sehe gar nicht ein, warum sich die Unterdrücker von heute an ihrer Hinterlassenschaft bereichern sollen. Und zum zweiten fehlt es der Formel vom Realen Undsoweiter an Handlichkeit. Ich werde mir deshalb erlauben, die ungeheure Erscheinung in Zukunft den Resozismus zu nennen …”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Das höchste Stadium der Unterentwicklung. In: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt (Main: Suhrkamp: 1985, S.53-73.

Abb.: Robert Doisneau: Rue Marcelin Berthelin Berthelot, Choisy le Roi, mai 1946, im Internet.

03/10

26/03/2010 (13:39) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Resozismus

“Es war nicht die westeuropäische oder die nordamerikanische Arbeiterklasse, die nach der Macht gegriffen hat; es waren winzige Kaderparteien in rückständigen Gesellschaften, die durch Putsch und Bürgerkrieg ans Ruder kamen, und die sich behaupten konnten, weil sie es verstanden, die Masse der Bauern für sich zu gewinnen, weil sie als Organisatoren nationaler Befreiungskämpfe auftraten, oder weil sie von einer starken Besatzungsmacht militärisch gestützt wurden. Der ‘siegreiche Sozialismus‘ wäre mithin ein direktes oder indirektes Produkt der Unterentwicklung. …

Fünfundsechzig Jahre nach der Oktoberrevolution hat eine solche Deutung viel von ihrer Plausibilität verloren, und es scheint mir an der Zeit, eine andere, und zwar die umgekehrte Hypothese zu prüfen: Vielleicht ist es nicht nur so, daß unterentwickelte Gesellschaften sozialistische Regimes hervorbringen; vielleicht bringen umgekehrt sozialistische Regimes unterentwickelte Gesellschaftsformen hervor. … Meine Hypothese lautet: Der Reale Sozialismus ist das höchste Stadium der Unterentwicklung. …

1. Der Resozismus hat sich nicht die Unterentwiklung schlechthin zum Ziel gesetzt; er strebt vielmehr an, sie zu ihrer höchsten Blüte zu bringen. Die Menschen sollen nicht, wie in Mali oder Bangla Desh, verhungern. Alle sollen ernährt, aber schlecht ernährt; erzogen, aber schlecht erzogen; behaust, aber schlecht behaust werden. … Der Mehrwert, der über diese Grenze hinaus erwirtschaftet werden kann, fließt entweder in die Taschen der privilegierten Klasse (‘Nomenklatura’), oder er kommt der äußeren und inneren Rüstung zugute, die als einziger Sektor jedem Vergleich mit ihrem Widerpart in den kapitalistischen Ländern standhalten kann.

2. Wer ein Land unterentwickeln will, muß die alte, vorindustrielle Gesellschaftsform, die er vorfindet zertrümmern und ausschlachten. Von ihrem ‘rückständigen’ Momenten wird er sich dabei alles aneignen, was den Übergang von der alten zur neuen Misere begünstigt. Zum Fundus des Schlechten Alten gehören besonders die einheimischen Formen der Unterdrückung. Deshalb greift der Resozismus, ebenso wie das klassische Kolonialsystem, wo immer er kann, auf traditionelle Herrschaftsmethoden zurück: auf den Zarismus in Rußland, auf das preußische Erbe in der DDR, auf das Caudillo- und Kazikenregime in Lateinamerika und auf die asiatische Despotie im Fernen Osten.

3. Im klassischen Imperialismus herrschte die einfache Logik der Ausbeutung: je elender es den Kolonien ging, desto reicher wurden die Metropolen. … Dagegen kann das resozistische Lager auf keine blühende Metropole außerhalb seiner Grenzen verweisen, Die Sowjetunion erzeugt und reproduziert ihre Unterentwicklung selbst, gewissermaßen aus eigener Kraft …

4. Wo der Resozismus bei seinem ‘Sieg’ bereits eine entwickelte Industriegesellschaft vorfindet, ergeben sich endlose Scherereien … das System kann nur durch einen Putsch oder durch militärische Macht oktroyiert werden. Aber auch, wo das gelungen ist, steht die eigentliche Aufgabe den Siegern erst bevor: die forcierte Rückentwicklung auf das sowjetische Niveau. …

Theorien der Unterentwicklung gibt es viele. fast alle suchen die ihre Begründung in materiellen Tatsachen, in der Analyse wirtschaftlicher Prozesse. Nun zeichnen sich resozistische Regimes zwar durch einen hohen Theoriebedarf aus; sie lehnen es aber ab, irgendeine dieser Theorien auf sich selber anzuwenden. … Am allerwenigsten dazu geeignet scheint ihnen zu diesem Zweck ihre eigene Theorie, die sich dialektischer Materialismus nennt. … Unter diesen Umständen erhebt sich natürlich die Frage, wer oder was für ihre Pleiten haftbar zu machen ist. Die Antwort steht seit einem guten halben Jahrhundert fest. Schuld ist a) der Feind, b) die Vergangenheit und c) die Fehlbarkeit des Menschen

Der Resozismus als höchstes Stadium der Unterentwicklung hat heroische Anstrengungen gemacht, um das Gefühl zu verdrängen, daß er den unterworfenen Völkern nur Unglück brachte. … In seiner Selbstdarstellung hat er das Potemkische Dorf zum Prinzip erhoben. … Die Unterentwicklung gebiert den Wahn. Der Resozismus erhebt ihn zum System. … massenhafte Vernichtung menschlicher Wünsche, menschlicher Phantasie, menschlicher Produktivität: wer Unterentwicklung durch Gewalt für einen Ausweg hält, der sucht sein Heil im Wahn.”

aus: Hans Magnus Enzensberger: Das höchste Stadium der Unterentwicklung. In: ders.: Politische Brosamen, Frankfurt (Main: Suhrkamp: 1985, S.53-73.

03/10

26/03/2010 (13:08) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Berufsrevolutionäre

“Die Geschichte des Berufsrevolutionärs im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gehört in Wahrheit weder in die Geschichte der arbeitenden noch der besitzenden Klassen, wohl aber in die noch nicht geschriebene Geschichte des produktiven Müßiggangs. In dieser Hinsicht gehören die Berufsrevolutionäre in die gleiche Kategorie wie die modernen Künstler und Schriftsteller, die zwar auch oft genug Hungerleider waren, aber sich dennoch den Luxus leisteten, nicht für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Sie sind alle zusammen die wirklichen Erben der hommes de lettres des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, und sie taten sich zusammen in der Bohème, weil für sie alle ‘das Wort bourgeois einen ästhetisch nicht weniger als politisch verhaßten Klang hatte’. Für sie alle wurde die Bohème eine Insel seligen Müßiggangs inmitten des unerträglich geschäftigen Jahrhunderts der industriellen Revolution. Aber selbst in dieser neuen Klasse der Müßiggänger erfreute sich der Berufsrevolutionär noch besonderer Privilegien, weil nur er sich gemeinhin mit gar keiner irgendwie spezifizierten Arbeit abzugeben hatte. Er hatte wahrhaftig am wenigsten Grund, sich über Mangel an Zeit zum Nachdenken und studieren zu beklagen, und hierfür ist es nicht weiter wichtig, ob diese wesentlich dem Studium gewidmete Lebensweise in den berühmten Bibliotheken von Paris und London vonstatten ging oder in Wiener und Schweizer Kaffeehäusern oder schließlich in den keineswegs unerträglichen Gefängnissen der verschiedenen Vorkriegsregime. …

Der Ausbruch einer Revolution befreit die lokalen Berufsrevolutionäre aus ihren jeweiligen Aufenthaltsorten, aus den Gefängnissen und den Bibliotheken und den Kaffeehäusern. … Nicht Revolutionen zu machen, sondern die Macht zu ergreifen, wenn sie ausgebrochen sind, ist Sache des Berufsrevolutionärs. … Bekannt sind die Namen der Redner, der Verfasser von Flugschriften, der Parteiführer, nicht aber die von Verschwörern und Mitgliedern von Geheimgesellschaften, die es kaum je zu mehr als zu einigen aufsehenerregenden Attentaten bringen, die zudem noch meist mit Hilfe der Geheimpolizei zustande kommen. …

Es sind gewöhnlich die Berufsrevolutionäre, welche die einmal ausgebrochene Revolution in die Hand bekommen, und da sie selbstverständlich ihr Handwerk in der Lehre vergangener Revolutionen gelernt haben, sind gerade sie besonders ungeeignet, das wirklich Neue einer Revolution zu sehen und zu verstehen. …

Wo immer die Revolution scheinbar siegte, die Ein-Partei-Diktatur, also angeblich die Diktatur des Proletariats, in Wahrheit die der Berufsrevolutionäre, sich schließlich durchsetzte; und das hat noch immer bedeutet, daß die Organe und Institutionen der Revolution schließlich von den ‘revolutionären’ Parteien erledigt wurden, zumeist in einem Kampf, der erheblich blutiger war als der Kampf gegen die ‘Konterrevolution’.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.332-338.

Abb.: Aditya Novali: Rebellious Silent, Detail #1, 2012, indoartnow, im Internet.

03/10

22/03/2010 (20:03) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Amerikanische Revolution

“… Die erstaunliche Tatsache, daß die Unabhängigkeitserklärung sofort ein wahres Fieber von Verfassungserlassen in den dreizehn Kolonien hervorrief, zeigt schlagartig, wie sehr sich bereits vor Ausbruch der Revolution in der Neuen Welt ein völlig neuer Begriff von Macht und Autorität und völlig neue Vorstellung von Politik überhaupt durchgesetzt hatten. … Die den Europäern so vertraut klingende Sprache darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Stadt– und Dorfgemeinden amerikanischer Art in Europa schlechthin unbekannt waren. …

Der Machtbegriff, den die Revolution nahezu automatisch zutage förderte, weil auf ihm alle kolonialen Organe der amerikanischen Selbstverwaltung beruhten … geht zurück auf den Mayflower Pakt, der bekanntlich noch auf dem Schiff entworfen und bei der Landung unterzeichnet wurde. … Sie, so wie sie da auf dem Schiffe waren, ein zusammengewürfelter Haufen, verfügten über die Macht, sich zusammenzutun und einen ‘civil Body Politick’ zu etablieren, der von nichts zusammengehalten war als dem Vertrauen auf die Kraft gegenseitiger Versprechen, die sie sich abgaben ‘in Gegenwart aller und unter den Augen Gottes‘; das sollte genug sein, sie zu ermächtigen, alle notwendigen Gesetze und Regierungsorgane ‘zu verordnen, zu konstituieren und zu entwerfen’. …

Die Männer der Revolution … verstanden sich auf ein Handwerk, das in der gesamten übrigen Welt eigentlich unbekannt war und noch ist. … Ihre Begriffssprache [aber] unterschied sich kaum von der ihrer englischen oder französischen Kollegen, und selbst wenn es zwischen ihnen und den Europäern zum Streit kam, gelang es ihnen nicht, die wesentlichen Unterschiede in einer anderen Sprache zu artikulieren. …
Die amerikanischen Revolutionäre konnten es an revolutionärem Geist mit jedem ihrer europäischen Kollegen aufnehmen, aber sie wurden Gründer; sie wurden nicht der Spielball von Ereignissen und Umständen, von blindwütenden Kräften

In den Vereinigten Staaten selbst … weiß man kaum noch, daß die Vereinigten Staaten einer Revolution ihre Entstehung verdanken und daß die Republik keiner ‘historischen Notwendigkeit’ und keiner organischen Entwicklung ihre Existenz verdankt, sondern einzig einem voll bewußten und wohl überlegten Akt – der Gründung der Freiheit. Aus diesem Gedächtnisschwund erklärt sich dann auch weitgehend die hier so verbreitete Revolutionsangst. … Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von keinem Motiv mehr beeinflussen lassen als von dieser Revolutionsangst, deren einziges Ergebnis die vielfachen und verzweifelten Versuche sind, überall den Status quo zu stabilisieren, was im Grunde kaum je etwas anderes heißen konnte, als die Macht und das Prestige Amerikas zugunsten überalterter und korrupter Regierungen, Gegenstand des Hasses und der Verachtung ihrer eigenen Bürger, in die Waagschale zu werfen.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.215-279.

Abb.: William Copley: Imaginary Flag for USA, 1972, im Internet.

03/10

22/03/2010 (11:53) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Politikverdrossenheit

“… Blickt man auf diese Entwicklung zurück, so kann man abschließend schwerlich leugnen, daß Crèvecoeur recht behalten hat. Er hat als erster vorausgesagt, daß ‘der Privatmensch mit dem Bürger fertigwerden wird, daß die politischen Grundsätze verfliegen werden’, daß jedermann sagen wird: ‘Der einzige Gegenstand meiner Wünsche ist das Glück meiner Familie’, daß man sich im Namen der Demokratie voll Wut gegen die ‘großen Herren’ wenden wird, die es sich herausnehmen, mehr vom Leben zu erwarten, und daß man im Namen des ‘gemeinen Mannes’ oder unter Berufung auf unklare liberalistische Anschauungen die Tugenden des Öffentlichen, die fraglos nicht mit denen des Familienvaters identisch sind, als Laster ‘entlarven’, als ‘Ehrgeiz’ und ‘Machtwillen‘ denunzieren wird, um am Ende noch diejenigen als ‘Aristokraten’ zu verleumden, denen man doch selbst die Freiheit verdankt.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.181.

Abb.: Foto Lola in Derry, 2023

03/10

22/03/2010 (11:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

neureich

“Der geheime Wunsch des armen Mannes ist keineswegs, wie die Sozialisten meinten, daß jedem das zustehen solle, was seinen Bedürfnissen entspricht, sondern, daß jeder das besitzen und verzehren könne, was nur sein Herz begehrt. ‘Erst muß es möglich sein auch armen Leuten, / Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden’ (Brecht): das bleibt wahr, früher kann von Freiheit nicht die Rede sein; aber es ist ebenso wahr, daß von Freiheit nicht mehr die Rede ist, wenn die reichgewordenen ‘armen Leute’ entschlossen für nichts anderes leben als für die Befriedigung ihrer nun ins Gigantische gestiegenen Bedürfnisse, das heißt, wenn sie auch im Reichtum den Idealen der Armut verhaftet bleiben.”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963: S.180.

03/10

22/03/2010 (11:04) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Revolution 3

“Vor den beiden großen Revolutionen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gab es einen eigentlichen Revolutionsbegriff nicht. Denn dieser ist unlösbar mit der Vorstellung verhaftet, daß sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß eine neue Geschichte anhebt. …

Nur wo dieses Pathos des Neubeginns vorherrscht und mit Freiheitsvorstellungen verknüpft ist, haben wir das Recht, von Revolution zu sprechen. Woraus folgt, daß Revolutionen prinzipiell etwas anderes sind als erfolgreiche Aufstände, daß man nicht jeden Staatsstreich zu einer Revolution auffrisieren darf und daß nicht einmal jeder Bürgerkrieg bereits eine Revolution genannt zu werden verdient. …

Der politischen Sprache vor der Neuzeit stand ein erheblicher Wortschatz zur Verfügung, wenn sie von Aufruhr und Aufstand der Untertanen gegen eine wie immer geartete Herrschaft handeln wollte, aber sie verfügte über kein Wort, das einen Umschwung bezeichnet hätte, in dem die Untertanen selbst zu Herrschern werden.”

“Das hervorstehende Merkmal erfolgreicher Revolutionen in unserem Jahrhundert ist, daß sie die Sprache der Notwendigkeit sprechen und in der Gewaltherrschaft enden. … Es gibt vermutlich in der Geschichte überhaupt keine Revolution, die von den Massen der Armen selbst spontan in die Wege geleitet wurde, genauso wie keine Revolution je aus dem bloßen Aufruhr der Unzufriedenheit oder den Komplotten von Verschwörern entstanden ist … Es ist ein Zeichen echter Revolutionen, daß sie in ihren Anfangsstadien leicht und verhältnismäßig blutlos verlaufen, daß ihnen die Macht gleichsam in den Schoß fällt, und der Grund hierfür liegt darin, daß sie überhaupt nur möglich sind, wo die Macht auf der Straße liegt und die Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskreditiert ist. Revolutionen sind die Folgen des politischen Niedergangs eines Staatswesens, sie sind niemals dessen Ursache. …

Selbst wenn der entscheidende Autoritätsverlust bereits völlig manifest geworden ist, bedarf es für den Ausbruch der Revolution [allerdings] immer noch der Existenz einer genügenden Anzahl von Menschen, die auf einen Zusammenbruch mehr oder weniger vorbereitet und willens sind, die Macht zu ergreifen. …”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München: Piper 1963, S.33-49; 147/48.

Abb.: Banksy.

03/10

21/03/2010 (23:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Mitleid und Solidarität

“… Was ihn [Rousseau] eigentlich interessierte, war nicht das Unglück anderer, sondern waren die Bewegungen des eigenen Herzens, welche unter anderem auch durch den Anblick fremden Leidens erzeugt werden können. …

Sowohl die leidenschaftliche Anteilnahme an fremdem Leid wie die Perversion dieses echten Leidens in das gefühlsselige Mitleid stehen außerhalb der Politik. Im politischen Raum entspricht ihnen die Solidarität, die sich nicht wie das Mitleid ‘zu den Schwachen hingezogen’ fühlt, sondern in abwägender Freiheit von Gefühl wie Leidenschaft darauf sinnt, eine von dem Wechsel der Stimmungen und Empfindungen unabhängige, dauerhafte Interessengemeinschaft mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten zu etablieren. … Da die Solidarität der Vernunft teilhaftig ist, kennt sie das Allgemeine und ist fähig, ein Kollektiv begrifflich zu erfassen, nicht nur das Kollektiv einer Klasse oder einer Nation oder eines Volkes, sondern schließlich auch die Idee der Menschheit, wie die Vernunft sie uns vorgibt. Zwar kann diese Solidarität, sofern sie sich auch als Gefühl äußert, durch den Anblick fremder Not erweckt werden, aber sie wird sie selbst erst, wenn sie das reine Mit-Leiden übersteigt und die Starken und Reichen ebenso miteinbezieht wie die Armen und Schlechtweggekommenen. Verglichen mit dem Mitleid, das in seinem eigenen Gefühl schwelgt, aber auch mit dem Mit-Leiden, das leidenschaftlich seiner selbst vergißt, wird diese an Ideen orientierte und von der Vernunft geleitete Solidarität leicht als kalt und abstrakt erscheinen, als fehle es ihr an allgemeinster Menschenliebe. Dafür ist das, worauf sie sich gründet: die Prinzipien der Größe, der Ehre, der Würde des Menschen, erheblich dauerhafter als Gefühl und Leidenschaft. …

Ohne Unglück gäbe es kein Mitleid, und Mitleid ist darum ebenso interessiert daran, daß es Unglückliche gibt, wie der Machthunger daran interessiert ist, daß Schwäche und Ohnmacht ihm in die Hände spielen. Hinzu kommt, daß die sentimentale Gefühlsseligkeit des Mitleids beinahe automatisch dazu führt, den Anlaß des Gefühls, also das Leiden der anderen, zu glorifizieren. …

Eines steht fest: Wo immer man die Tugend aus dem Mitleid abgeleitet hat, haben sich Grausamkeiten ergeben, die es unschwer mit den grausamsten Gewaltherrschaften der Geschichte aufnehmen können. …
Die Widerrechtlichkeit des ‘Alles ist erlaubt’ ertönte hier [in der französischen Revolution] noch aus der echten Gesetzlosigkeit des Herzens, das dem Gesetz immer seine Erbarmungslosigkeit vorwerfen wird. Daß das Gesetz Erbarmen nicht kennt, wer wollte es leugnen? Nur darf man darüber nicht vergessen, daß es immer die brutale Gewalt ist, die sich an die Stelle des Gesetzes setzt, ganz gleich aus welchem Grunde Menschen es abschaffen….”

aus: Hannah Arendt: Über die Revolution. München. Piper, 1963, S. 112-117.

Abb: Ajeng Pratiwi: Provokasi, 2018, indoartnow, im Internet.

03/10

21/03/2010 (21:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ausländerdeutsch

“Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass Babys ihre Muttersprache besser verstehen und erlernen, wenn man mit ihnen nicht in einer von Erwachsenen ersonnenen Babysprache spricht – zum Beispiel ‘watte hatte du die da?’ – sondern in einer fließenden und grammatikalisch korrekten Form: ‘Na, mein Kleiner, was hast du denn da?’

Es hat sicherlich einige Zeit gedauert, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. Warum sollte sie nicht auch zwischen Erwachsenen verschiedener Herkunft gelten? Denn ein Ausländer wird die deutsche Sprache kaum besser verstehen, geschweige denn erlernen, wenn ein Deutscher im Gespräch mit ihm versucht, ein gebrochenes ‘Ausländerdeutsch’ zu sprechen.

Erstens handelt es sich nicht um das Deutsch, das Ausländer normalerweise untereinander sprechen. Daher geht die vielleicht gut gemeinte Absicht, in einer für Ausländer verständlicheren und ‘heimischeren’ Sprache zu kommunizieren, fehl. Denn normalerweise ist die gebrochene deutsche Sprache der Ausländer dadurch bedingt, dass sie den Satzbau oder die Aussprache ihrer Muttersprache übernehmen. Man kann jedoch wohl davon ausgehen, dass nicht jeder Deutsche den Satzbau und die Aussprache aller rund 150 oder mehr Sprachen, die auf dieser Welt gesprochen werden, kennt. Daher muß dieser Versuch scheitern.

Zweitens ist es in Zeiten, in denen von Ausländern ein Sprachtest verlangt wird, um sich in Deutschland einbürgern zu können, sinnvoller, ihnen die deutsche Sprache richtig nahe zubringen – außer man will verhindern, dass sie den Sprachtest bestehen. Ein Hamburger würde sich bei einem Gespräch mit einem Münchner auch nicht auf den Versuch einlassen, bayrischen Dialekt zu sprechen, um sich verständlicher zu machen.

In diesem Sinne: Lasst Eure Vorbehalte zu Hause und versucht, mit jedem Ausländer genauso wie mit jedem Deutschen zu sprechen – nur etwas deutlicher und etwas langsamer. Nehmt Euch ein Beispiel an Eurem Bundesverteidigungsminister – ‘gaaaanz laaangsaaam’.

aus: “Im Ausland daheim: Der in Hamburg aufgewachsene Grieche Christos Petridis gibt Tips zum sprachlichen Umgang miteinander: Wie ein Deutscher nicht mit Ausländern reden sollte. Badische Zeitung 15.3.2001.

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02/03/2010 (15:51) Schlagworte: DE,Lesebuch ::