MALTE WOYDT

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Höflichkeit

“… In ihrer Gesellschaft wurde ich gewahr, daß echte Höflichkeit – einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens – anders und komplizierter ist, als ich es daheim und in den Erziehungseinrichtungen gelehrt worden war. Die ‘Disziplin‘, an die man mich als Kind gewöhnt hatte, war primitiv; die Schauspielerin bemühte sich mit ihren schönen und leichten Händen, den Zwang dieser primitiven Disziplin zu lösen. Sie lehrte mich, wahre Höflichkeit sei es nicht, wenn wir ein Rendezvous, zu dem wir keine Lust haben, auf die Minute einhalten; es sei höflicher, wenn wir die Möglichkeiten zu einem unangenehmen Rendezvous erbarmungslos im Keim ersticken. Sie lehrte mich, daß wir ohne Erbarmungslosigkeit niemals frei sein können und unseren Gefährten ewig zur Last fallen werden. Sie lehrte mich auch, daß man wohl grob, aber niemals unhöflich sein darf; man darf jemanden ins Gesicht schlagen, aber man darf ihn nicht langweilen; und eine Unhöflichkeit ist es, Zuneigung zu mimen, wo man von uns viel weniger erwartet.”

aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. München: Piper 2000, (ungarische Originalausgabe 1934), S. 282/283.

12/11

13/12/2011 (14:41) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ordnung 2

“Ich war überzeugt, Deutschland sei sie klassische Heimat exemplarischer Ordnung; wie ich es zu hause und in der Schule gelernt hatte. In der Tat, was für eine Ordnung überall herrschte, in den Museen, auf den Bahnhöfen und auch in den Privatwohnungen! Nur in den Seelen, den deutschen Seelen, herrschte keine ‘Ordnung’; in denen war es dunkel, wogte Nebel, der Nebel blutiger und nicht gerächter, nicht gesühnter Mythen. … Und als ich nach Frankreich kam, graute mir vor der allgemeinen Unordnung. Es dauerte Jahre, bis ich lernte, was ‘Ordnung’ ist – es dauerte Jahre, bis ich begriff, daß bei den Franzosen der Müll tatsächlich unter die Möbel gekehrt wird, aber strahlende Ordnung und hygienische Klarheit in den Hirnen herrscht.”

aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. München: Piper 2000, (ungarische Originalausgabe 1934), S. 274.

Abb.: Klaus Staeck: Ordnung muß sein, 1987, Edition Staeck, im Internet.

12/11

13/12/2011 (13:50) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Pflicht

“Ich verhielt mich jedenfalls wie ein Kind, das unverhofft ein riesiges Spielzimmer geschenkt bekommen hat. Dieses Spielzimmer mit einem turmhohen Haufen erlesener und erregender Spielsachen in jeder Ecke war die Welt. Beim Spielen – das Reisen, der Umgang mit Menschen, dies alles enthielt für mich etwas Spielerisches – beschlich mich zuweilen ein sonderbares, fast schmerzliches Verantwortungsgefühl. Ich war in einer Angst befangen, als ließe ich mir absichtlich einen lebenswichtigen Auftrag entgehen. Ich hatte unheimlich viel zu tun, nur wußte ich nicht, wo ich den Anfang machen sollte. Es dauert lange, bis man lernt, daß man eigentlich nichts zu tun hat; und dann fängt man meistens endlich irgendwo an.”

aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. München: Piper 2000, (ungarische Originalausgabe 1934), S. 235.

12/11

13/12/2011 (12:38) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Vorfahren

“Ich begebe mich unter Tote, ich muß leise sprechen. Einige dieser Toten sind tot für mich, andere leben in meinen Handbewegungen, meiner Kopfform, wie ich Zigaretten rauche und Liebe mache, gleichsam in ihrem Auftrag esse ich bestimmte Speisen. Sie sind viele. Der Mensch fühlt sich lange allein unter den Menschen; eines Tages gelangt er in die Gesellschaft seiner Toten und bemerkt ihre ständige, taktvolle Gegenwart. Sie trüben kaum ein Wässerchen. Ich fing spät an, mit der Familie meiner Mutter in Verwandtschaft zu leben; eines Tages hörte ich ihre Stimme, als ich sprach, sah ich ihre Gesten, als ich grüßte, das Glas hob. Die ‘Individualität‘, das wenige was der Mensch als Neues seinem Selbst hinzufügt, ist verschwindend gering neben dem Erbe, das uns die Toten hinterlassen. Menschen, die ich nie gesehen habe, leben und schöpfen, erregen, sehnen und fürchten sich in mir weiter. Mein Gesicht ist das Abbild meines Großvaters mütterlicherseits, meine Hände habe ich von Vaters Familie, mein Temperament aus Mutters Verwandtschaft geerbt. In bestimmten Augenblicken, wenn ich beleidigt werde oder rasch entscheiden muß, denke und sage ich wahrscheinlich wortwörtlich, was mein Großvater in der mährischen Mühle vor siebzig Jahren dachte und sagte.

… [Das Portrait meines Großvaters] hängt in meinem Zimmer an der Wand, ich sehe ihm verblüffend ähnlich. Auch mein Gesicht wirkt genießerisch, weich und fleischig, die Lippen meines sinnlichen Mundes hängen, und ließe ich mir einen Vollbart wachsen, wäre ich ein Double des Fremden, der mich vom Foto anstarrt. Von ihm habe ich die Wanderlust geerbt, meine Sensibilität, meine slawische Ruhelosigkeit und meine Zweifel. Dieser fremde Mensch lebt kraftvoll in mir weiter. Wahrscheinlich erbt man von seinen Vorfahren nicht nur die Statur; wie ich seinen Mund, seine Stirn, seine Augen und seine Kopfform trage, so leben in mir auch seine Bewegungen, sein Lachen, seine lüsternen Neigungen, eine gewisse Laxheit und Hochnäsigkeit. Auch ich trage die Buchhaltung meines Lebens und meiner Angelegenheiten mit Vorliebe in den Taschen herum. Aber es lebt in mir noch ein anderer Großvater, der strenger, finsterer und pedantischer ist, er ist ebenfalls früh gestorben, ich habe ihn nie gekannt. Diese Fremden, mit denen ich leben muß, lassen mich – denjenigen, den ich tastend und mit Mühe aus mir gedrechselt habe – selten zu Wort kommen…”

aus: Sándor Márai: Bekenntnisse eines Bürgers 1, Berlin/St. Petersburg: Oberbaum 2000 (leicht gekürzte Fassung; ungarische Originalausg. 1934).

12/11

11/12/2011 (1:02) Schlagworte: DE,Lesebuch ::