MALTE WOYDT

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autolos

Autofahrer leben anders.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie das sein muß, sein Auto aufzugeben und plötzlich ein Leben ohne Auto zu führen.

Ich habe nie ein Auto gehabt, auch nie einen Führerschein gemacht. Was nicht heißen soll, daß mein Leben vollkommen autolos verlaufen wäre. Meine Eltern hatten immer ein Auto, ich fuhr auf der Rückbank mit, wir fuhren oft mit den Auto in Urlaub.

Als WIR unser zweites Kind erwarteten, hat meine Freundin mit damals 38 Jahren ein Auto (mit bereits draufmontiertem Fahrradträger!) gekauft und dann ihren Führerschein gemacht (das ist die Reihenfolge in der man das in Belgien macht). Das war eine wahnsinnig gute Entscheidung. Mit kleinem, todmüden Kind abends spät im Zug nach Hause fahren, war schon kein Geschenk, immer dieselben Fahrradtouren vom Haus aus machen zu müssen, weil man nie sicher sein kann, die Räder im Zug mitnehmen zu können, auch nicht. Und dann kam nicht nur ein zweites, sondern gleichzeitig ein drittes Kind!

Versucht mal, Euch mit einem Zwillingskinderwagen durch die Stadt zu bewegen… Wir hatten fürs erste Kind schon die Straßenbahntüren ausgemessen (58 cm, weiß ich heute noch), um sicher einen Kinderwagen zu kaufen, der da durchpaßt, dann auch ein Zwillingsmodell genommen, bei dem die Kinder nicht nebeneinander, sondern einander gegenüber sitzen (sowieso besser, hat den beiden wahnsinnig viel Spaß gemacht, miteinander Späßchen machen zu können). Aber doch, wir hatten damals bei uns im Viertel nur eine Buslinie, deren Busse zugänglich waren für so ein Monstrum (inzwischen fahren besser geeignete Bus- und Straßenbahnmodelle auf etwas mehr Linien als damals).

Also das Auto war ein absolutes Muß für die geplagten Zwillingsbabyeltern. Auch zog meiner Freundin Arbeitgeber, der urspünglich 20 Min. zu Fuß von uns gewesen war, dann eine Zeitlang 20 Min. zu Fuß plus 20 Min. Eisenbahn von uns entfernt zu finden gewesen war, raus aufs Land: 1:15 Std. per Bus, mit einem oft verspäteten (oder verfrühtem…) Bus, der nur einmal die Stunde fährt! Mit dem Auto 20 Minuten entgegen dem Berufsverkehr. Sie fährt so gut wie jeden Tag mit dem Auto.

Das heißt aber nicht, daß wir uns mit den Kindern nicht weiterhin zu Fuß, mit Fahrradanhänger, später Fahrradsitzen, Follow-me und inzwischen eigenen Fahrrädern, und öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt bewegten. Mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, macht nämlich keinen Spaß, Parkhäuser sind teuer und zurück zu Hause findet man keinen Parkplatz, der näher als 800 m am Haus dran wäre…

Wie gesagt, habe ich selber auch immer noch keinen Führerschein. Das hat mir eigentlich nur einmal richtig wehgetan: als meine Mutter ins Altersheim umzog, hätte ich die Haushaltsauflösung mit Führerschein und Auto viel besser erledigen können.

Autofahrer fragen immer: Aber wie macht Ihr Eure Einkäufe? Na, zu Fuß mit dem Rucksack! Wie das? Na, wir wohnen 300m von einer Straße mit 4 (!) Supermärkten enfernt, in 50m Entfernung ist ein Grünhöker, in 100m der Schlachter, in 150m mehrere Bäcker. Wir gehen mehrmals die Woche einkaufen, Fleisch vom Schlachter, Obst und Gemüse an der Ecke, den Rest (und Schweinefleisch, das führt unser Schlachter nicht) in einem der Supermärkte. “Na, da habt Ihr aber Glück, daß Ihr das so nah dran habt” – Wieso Glück? Wenn man als Nicht-Autofahrer eine Wohnung oder ein Haus sucht, achtet man darauf, wie nah die Geschäfte sind. Unser Haus ist inzwischen teurer als Häuser mit Garage aber ohne Supermarkt. Das ist nicht Glück, das sind andere Prioritäten, das ist eine andere Lebensweise.

Autofahrer leben anders. Das erste Mal fiel mir das auf, als ich in Hamburg mit frischen Führerscheinbesitzern ausging: Die Leute entschieden sich nicht für ein Stadtviertel in das sie ausgehen wollten, wie ich das gemacht hätte. Nein, sie schauten erst in Pöseldorf in ein Lokal, war zu langweilig, hop ins Auto nach Altona. Und so weiter… Ähnliche Situation: Vetter und Cousine aus Kempten nahmen meine Schwester und mich mit in die Disko. Die Kemptener Discos gefielen ihnen nicht, wir fuhren also nach Isny. Während des Studiums in Mannheim hatte ich Nachbarn, die fuhren ständig ins Schwimmbad, offenbar eine Disko in Heidelberg. Für mich war Heidelberg gleichbedeutend mit dem Nachtzug von 2:00 morgens, Ankunft in Mannheim 2:14. Davor fuhr der letzte Zug irgendwann um 22 Uhr oder so. Das heißt, ich war abends so gut wie nie in Heidelberg. Gab in Mannheim genug zu tun. Ich war einmal auf einer Geburtstagsparty mit lauter Autofahrern. Die diskutierten über die Preise von Fitnessclubs. So ein Blödsinn, mit dem Rad zur Arbeit fahren und zurück, und ihr braucht keinen Fitnessclub!

Autofahrer, die es einmal ohne Auto versuchen (müssen), finden Tram und Busse schrecklich: Die Promiskurität, der fehlende Sitzplatz, die langen Wartezeiten. ICH habe IMMER was zum Lesen im Rucksack: Zeitung oder Buch. Ob ich mein Buch jetzt zu Hause lese oder an der Straßenbahnhaltestelle ist doch egal? Gut, ich muß nur selten im Berufsverkehr durch die Stadt, habe also oft einen Sitzplatz. Aber mit dem Auto im Stau könnte ich mein Buch auch nicht lesen.

Autofahrer, die es einmal per Rad versuchen, finden ausgerechnet den Autoverkehr zu laut, zu stinkig zu gefährlich, um sich darin mit dem Fahrrad zu bewegen. Wie kommt das nun? Ich begegne nicht vielen Autos in der Stadt. Autofahrer, die aufs Fahrrad umsteigen, machen das auf denselben Hauptverkehrsachsen, die sie auch mit dem Auto nehmen, und begegnen dort … Autos! Man sollte schon ruhigere Seitenstraßen probieren, in Brüssel gibt es dafür Extra-Rad-Stadtpläne und – bisher leider immer noch unvollständige – Wegweiser in der ganzen Stadt.

Belgier finden im Allgemeinen, mit Kindern könne man nicht in der Stadt leben. Kinder brauchen ein Haus mit Garten außerhalb der Stadt, mit Carport oder Doppelgarage. So ein Quatsch. Ich war und bin oft mit den Kindern in der Stadt unterwegs. Es gibt immer Mäuerchen zum Draufspringen, Stadtmobiliar zum Fangen- und Versteckspielen, sogar ab und zu Spielplätze. Es gibt Open-Air-Konzerte, Straßentheater, Flohmärkte, Stadtteilfeste mit Kinderanimationen, Museen, Spielecafés und andere Dinge zu entdecken. Die Kinder haben immer Spiele, Spiel- oder Malzeug im Rucksack dabei. Die Kinder können morgens alleine in die Schule gehen (aus Sicht anderer belgischer Eltern sind wir also Rabeneltern!), und Musikschule sowie Sportaktivitäten finden wir alle auf dem Schulweg. Auf dem Land bräuchte man für die außerschulischen Aktivitäten unserer Kinder drei Autos und mithelfende Großeltern. In der Stadt geht das alles zu Fuß und mit dem Fahrrad. Wir haben jetzt so einen Ledersitz für den Gepäckträger, auf dem man auch größere Kinder, die erschöpft aus dem Training kommen, nach Hause bekommt…

Normale Menschen in unserer Situation hätten zwei Autos, sehen wir auch bei Nachbarn (die sich, obwohl sie in der Stadt wohnen, verhalten wie Landbewohner), wir nur eines. Was uns das Auto weniger kostet? Einen Familienurlaub mehr im Jahr, jippie!

Autofahrer leben anders, mit weniger Auto lebt sich’s besser.

Malte Woydt, geschrieben für einen Blog zum “Mobilitätsfasten”

Abb.: Einsendung von ? zum Deutschen Karikaturpreis 2019.

02/13

27/02/2014 (19:48) Schlagworte: DE,Notizbuch ::

Autofahrer

(FR)

 

“Rad- und Autofahrer: Warum soviel gegenseitiges Unverständnis?

… Autofahrer folgen … präzisen unausgesprochenen Regeln, die nur für sie gelten. Diese Regeln sind nicht mit der “offiziellen” Straßenverkehrsordnung zu verwechseln, teils ergänzen sie diese, teils stehen sie im Widerspruch zu derselben. Viele Mißverstände rühren daher, daß Autofahrer vergessen, daß sich diese Regeln in keiner Weise auf Radfahrer übertragen lassen.

Das beste Beispiel ist wohl die unausgesprochene Regel “Respekt für die Warteschlange”. Ein Autofahrer bewegt sich in der Stadt von Warteschlange zu Warteschlange… insbesondere im Berufsverkehr, der heutzutage den größten Teil des Tages in Beschlag nimmt. Meistens steht der Autofahrer in der Schlange, ohne zu wissen, warum, außer daß er durch das Auto vor ihm blockiert ist. Sobald es möglich ist, gibt er wieder Gas, um sich so gut wie möglich in der nächsten Warteschlange zu positionieren. Schon ein Platz weiter vorne kann ihm eine Rotphase ersparen oder sogar zwei, wenn die Kreuzung ganz verstopft ist wie so oft.

Und sie haben gute Gründe so zu denken: Autofahrer finden, sie haben das Recht, ihren Platz in der Warteschlange zu behalten, selbst mitten auf der Kreuzung. Dafür muß man Autofahrer, die aus anderen Richtungen kommen, daran hindern, vor einem in eine Lücke zu stoßen. Das Recht, seinen Platz in der Warteschlange zu behalten, kommt also vor allen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung, da es einem (de facto) erlaubt, eine Kreuzung zu blockieren, ohne daß das die anderen Autofahrer aufregt. Im Gegenteil, wenn sich ein Autofahrer weigert, auf eine besetzte Kreuzung zu fahren, hupt man ihn (zumindest) aus. Meistens sind Autofahrer erleichtert, wenn vor ihnen jemand bei Rot über die Kreuzung fährt, da sie dadurch einen Platz aufrücken. (Aber ein Radfahrer, der bei Rot fährt, macht keinen Platz frei, der ist ein mieser Egoist!). Kurz, Autofahrer sind ständig damit beschäftigt, ihren Platz in der Schlange behalten zu wollen, darüber wird nicht viel nachgedacht. Autofahrer beachten diese Regel selbst auf der Autobahn, wo sie vollkommen ineffizient ist und gefährlich für sie selber und die anderen.

In diesem Zusammenhang wird klar, daß Radfahrer Provokateure sind, da sie die Warteschlange nicht respektieren, ein Otto-Normalautofahrer weiß nicht, daß die Straßenverkehrsordnung Radfahrern erlaubt, an wartenden Autos vorbeizufahren. Aber, eines ist sicher, er findet dieses Verhalten völlig inakzeptabel! Radfahrer werden nicht durch die skrupulöse Einhaltung der offiziellen Straßenverkehrsordnung aufhören, als Anarchisten angesehen zu werden …”

aus: Quentin Wibaut: Cyclistes vs. automobilistes : pouquoi tant d’incompréhension? In: Ville à Vélo 144, Bruxelles, Sept./Oct. 2009, S.12; Übersetzung Malte Woydt.

Abb.: Brandalism, 2020?, im Internet.

09/09

13/02/2014 (0:57) Schlagworte: DE,Lesebuch ::