MALTE WOYDT

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Puppen

“… Wie bei gewissen Studenten, hat man sich nicht auch vor den dicken unveränderlichen Kinderpuppen tausendmal gefragt, was später aus ihnen wurde? … undurchdringlich und in dem Zustand von vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgendeiner Stelle einzunehmen; ohne eigenes Urteil … nur im Augenaufschlag einen Moment wach, dann sofort mit den unverhältnismäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend … wie ein Hund zum Mitwisser gemacht, zum Mitschuldigen, aber nicht wie er empfänglich und vergeßlich, sondern eine Last in beidem; eingeweiht in die ersten namenlosen Erfahrungen ihrer Eigentümer, in ihren frühesten unheimlichen Einsamkeiten herumliegend … – mitgezogen in die Gitterbetten, verschleppt in die schweren Falten der Krankheiten, in den Träumen vorkommend, verwickelt in die Verhängnisse der Fiebernächte: so waren jene Puppen. Denn sie selber bemühten sich nie in alledem; lagen dann vielmehr da am Rande des Kinderschlafs, erfüllt höchstens von dem rudimentären Gedanken des Hinunterfallens, sich träumen lassend; wie sie’s gewohnt waren, am Tag mit fremden Kräften unermüdlich gelebt zu sein. … Wir mußten solche Dinge haben, die sich alles gefallen ließen. … Der Puppe gegenüber waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen, unser allmählich breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil, uns gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom Leibe zu halten. Wie in einem Probierglas mischten wir in ihr, was uns unkenntlich widerfuhr und sahen es dort sich färben und aufkochen. Das heißt auch das erfanden wir wieder, sie war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung in ihr unerschöpflich wurde. Stundenlang, ganze Wochen mochte es uns befriedigen, an diesem stillhaltenden Mannequin die erste flaumige Seide unseres Herzens in Falten zu legen, aber ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß es gewisse zu lange Nachmittage gab, in denen unsere doppelten Einfälle ermüdeten und wir ihr plötzlich gegenüber saßen und etwas von ihr erwarteten. … wenn jenes beschäftigungslose Geschöpf fortfuhr, sich schwer und dumm zu spreizen, wie eine bäuerische Danae nichts anders kennend als den unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung: ich wollte, ich könnte mich entsinnen, ob wir dann aufbegehrten, auffuhren und dem Ungeheuer zu verstehen gaben daß unsere Geduld zu Ende wäre? Ob wir dann nicht zitternd vor Wut, vor ihr standen und wissen wollten, Posten für Posten, wofür sie unsere Wärme eigentlich gebrauche, was aus diesem ganzen Vermögen geworden sei? … Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, daß wir uns gehen und anleiten lassen, unsere erste Neigung dort anzulegen, wo sie aussichtslos bleibt? … Ob nicht in dem und jenem seine Puppe heillos weiterwirkt, so daß er hinter vagen Befriedigungen her ist, einfach aus Widerspruch gegen das Unbefriedigtsein, mit dem sie sein Gemüt verdorben hat? …”

aus: Rainer Maria Rilke: Einiges über Puppen. In: ders.: Ausgewählte Werke, 2.Bd. Leipzig: Insel 1938, S.265-270.

03/15

31/03/2015 (1:06) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Kindheitserinnerungen

“Ich ging in der Stadt umher und konstatierte, daß sie sich verändert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten, in dem ich abgestiegen war, und zu sehen, daß es nun eine Stadt für Erwachsene war, die sich für einen zusammennahm, fast wie für einen Fremden. Ein bißchen klein war alles geworden, und ich promenierte die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurück. Wenn ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen, daß von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt hatte und was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da gewisse Eckfenster oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem wußten und damit drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, daß ich im Hotel ‘Phônix’ wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber mein Gewissen war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf, daß noch keiner dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich bewältigt worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich verlassen, unfertig wie sie waren. Auch die Kindheit würde also gewissermaßen noch zu leisten sein, wenn man sie nicht für immer verloren geben wollte. Und während ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich zugleich, daß ich nie etwas anderes haben würde, mich darauf zu berufen.”

aus: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Suhrkamp 1991, S.148.

Abb.: Chiharu Shiota: A Room of Memory, 2009, Museum of Contemporary Art Kanazawa Japan, im Internet.

03/15

29/03/2015 (15:17) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Geschenke

“Talent war eigentlich nur nötig, wenn sich einer Mühe gegeben hatte, und brachte, wichtig und gutmütig, eine Freude, und man sah schon von weitem, daß es eine Freude für einen ganz anderen war, eine vollkommen fremde Freude; man wußte nicht einmal jemanden, dem sie gepaßt hätte: so fremd war sie.”

aus: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge. Suhrkamp 1991, S.136.

03/15

29/03/2015 (15:06) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Leser

“Das Unglück, obenhin, unverständig, ohne Geschmack, ohne Gefühl, mit Vorurteilen oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden – oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken – oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut oder unglücklich gespielt oder sonst Mangel an Lebensgeistern hat – oder gelesen zu werden, wenn gerade dieses Buch, diese Art von Lektüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schickt und seine Sinnesart, Stimmung, Laune, mit des Autors seiner den vollkommensten Kontrast macht – das Unglück, so gelesen zu werden, ist, nach der Meinung des besagten Autors, keines von den geringsten, welchen ein Schriftsteller … sich und die armen ausgesetzten Kinder seines Geistes täglich und unvermeidlich bloßgestellt sehen muß. Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen, von achtzig so gelesen zu werden. …

Was Wunder also, wenn den besten Werken in ihrer Art, und in einer sehr guten Art, oft so übel mitgespielt wird? Was Wunder, wenn die Leute in einem Buche finden, was gar nicht drin ist; oder Ärgernis an Dingen nehmen, die, gleich einem gesunden Getränke in einem verdorbenen Gefäße, bloß dadurch ärgerlich werden, weil sie in dem schiefen Kopf oder der verdorbenen Einbildung des Lesers dazu gemacht werden?  Was Wunder, wenn der Geist eines Werkes den meisten so lange und fast immer unsichtbar bleibt? Was Wunder, wenn dem Verfasser oft Absichten, Grundsätze, Gesinnungen angedichtet werden, die er nicht hat, die er, vermöge seines Charakters, seiner ganzen Art zu existieren, gar nicht einmal haben kann? Die Art, wie die meisten lesen, ist der Schlüssel zu allen diesen Ereignissen, die in der literarischen Welt so gewöhnlich sind. Wer darauf achtzugeben Lust oder innern Beruf hat, erlebt die erstaunlichsten Dinge in dieser Art.”

aus: Christoph Martin Wieland: Wie man liest. Hier zitiert in: Wort und Sinn, Schulbuch. Paderborn: Schönigh, S.124.

Abb.: Klaus Staeck: Kunstkritiker beim ersten Documenta-Rundgang, 1977, Edition Staeck, im Internet.

03/15

24/03/2015 (0:34) Schlagworte: DE,Lesebuch ::