Mysterium
“Religion ist zunächst einmal eine sinnliche Erfahrung, nicht eine des Verstandes. Als Kinder erleben wir den Glauben in Sprache, Musik, Bildern und – denken Sie an den Weihrauch! – in Gerüchen. Vielleicht auch in der Zärtlichkeit, mit der die Mutter, der Vater am Bett mit uns das Nachtgebet gesprochen hat. Die Kulturleistung des Glaubens, die Vermittlung der Religion, funktioniert über die Sinne. …
Der Islam ist eine Religion des Ohres, weil Gott im Koran Sprache geworden ist, Klang. Aber Jesus Christus ist auf Erden erschienen, Gott ist im Christentum ein Mensch geworden, der nachgebildet und nachgeahmt wird. Auch im Islam gibt es Visuelles … aber doch tendenziell stets in der Abstraktion. …
Im Christentum ist dagegen das gegenständliche Bild so zentral, wie man das weder für den Islam noch für das Judentum sagen könnte. … Die Skulptur einer hilflosen, ratlosen, hemmungslos weinenden Mutter, die ihren erwachsenen, abgemagerten Sohn in den Armen hält, das verstehen wir auf einer unmittelbaren Ebene, selbst wenn wir gar nicht wüssten, dass es Maria und Jesus sind. Alles wirkt über die unmittelbar sinnliche Erfahrung. …
Vielleicht reagiere ich auf Bilder auch stärker, weil sie meiner Herkunft fremd waren: Ich bin nicht nur im Islam bilderlos aufgewachsen, sondern auch in meiner christlichen Umgebung, im damals noch sehr protestantischen Siegen. Dort ging es eher unsinnlich zu, Religion wurde mehr als eine ethische Botschaft verstanden. Hier im katholischen Köln erlebe ich das natürlich anders. …
Dieses protestantische Christentum, das ich auf einem Forum des Kirchentages höre oder das mir in der evangelischen Beilage der Zeitung begegnet, mag ja sympathisch sein, aber es lässt mich kalt. Es kommt mir oft wie eine Doppelung dessen vor, was uns der gesunde Menschenverstand ohnehin sagt. … Heute muss ich in die Philharmonie gehen, um religiös berückt zu werden.
Die Missachtung und Geringschätzung der Form finden Sie zwar auch in der katholischen Kirche, das finden Sie – und wie! – auch bei den Muslimen, die im 20. Jahrhundert eine Art Protestantisierung durchgemacht haben. Aber ich erinnere mich noch an die Faszination eines protestantischen Gottesdienstes mit der Lutherbibel, mit den Liedern, die auswendig gesungen und noch auf dem Nachhauseweg gesummt wurden. Gerade der Protestantismus, der mir heute oft so unsinnlich vorkommt, hätte sich ohne die poetische Kraft der Lutherbibel niemals ausgebreitet. …
Der Protestantismus hat vor allem versucht, Religion verstehbar zu machen: Dass jeder die Bibel versteht, war ein Leitgedanke, der auch absolut plausibel ist und eine notwendige Reaktion auf eine verknöcherte Orthodoxie war. Aber in der Bewegung, die der Protestantismus in Gang gesetzt hat, hat Religion zunehmend ihr Mysterium eingebüßt. … Das Geheimnis, das über uns steht, aber unser Schicksal bestimmt – das ist im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr redlich ausgemerzt worden. … Je mächtiger der Mensch … wurde, desto geringer erschien ihm das Mysterium. Wir spüren nicht mehr im Alltag wie der Mensch vor tausend Jahren, dass es Dinge gibt, die außerhalb von uns sind, auf die wir keinen Einfluß haben. Und doch gibt es sie …”
aus: Navid Kermani: “Religion ist eine sinnliche Erfahrung”, Interviewt durch Alexander Cammann, Die Zeit, 20.08.15, S.37/38.
Abb.: Andrea Zrenner: Verwandlung, 2020, im Internet.
08/15