MALTE WOYDT

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Erwachsenwerden

“Ich kenne niemanden, mich selbst eingeschlossen, der … [seine Jugendjahre]  wiederholen möchte, die meisten Menschen empfinden das, was danach kommt, als befriedigender.”

“[Als Jugendlicher hat man] so viele Ängste. Man muss sich beweisen, man fürchtet, dass sich Möglichkeiten zerschlagen, von denen gesagt wurde, sie seien endlos. … Man hat noch nicht gelernt, dass man Fehler machen darf. Vor allem weiß man noch nicht, dass die anderen genauso unsicher sind wie man selbst.”

“Weshalb gibt es also in jeder westlichen Kultur, die ich kenne; den völlig unreflektierten Spruch ‘genieße die besten Jahre deines Lebens’. Wir machen diese Zeit für die jungen Leute noch schlimmer, wenn wir ständig betonen, dass ihnen noch viel Härteres bevorsteht. Ich denke, wir wollen junge Menschen so darauf vorbereiten, dass sie wenig vom Leben erwarten und verlangen sollen. Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und der Jugend.”

“Erwachsensein … [stellen wir] als einen Prozess des Niedergangs dar …: Erwachsene haben resigniert, sie haben ihre Träume aufgegeben, sie erleben keine Abenteuer mehr, kurz: Sie sind todlangweilig – und da steckt ja auch schon das Wort Tod drin.”

“Indem man das Erwachsensein so grau und öde aussehen lässt, dass niemand da mitmachen will, der Elan und Lebendigkeit in sich hat, überzeugen wir die Leute davon, infantilisiert zu bleiben.”

“Das Problem ist, dass die Gesellschaft eigentlich keine Erwachsenen will. Erwachsene sind schwierig, sie denken für sich selbst.”

“Die Gesellschaft produziert Bedürfnisse, um uns von Strukturen abhängig zu machen, die unsere Freiheit unterminieren.”

“Je hebt als kind geen andere keuze dan alles te geloven. De adolescentie breekt aan als je ontdekt dat de wereld niet zo is als ze zou moeten zijn. Je wordt boos en verontwaardigd, denkt alles te kunnen ontmaskeren. Als volwassene vind je ten slotte een balans in beide houdingen.”

“Opgroeien betekent dat je leert leven met onzekerheden, maar dat je desondanks niet stopt met het streven naar zekerheden. Veel mensen blijven steken in het moeras van de adolescentie. Sluit de wereld niet aan bij hun idealen? Jammer dan voor die idealen.”

“Wer nicht auf irgendeine Weise das Gefühl hat, die Welt mitzugestalten, kann nicht erwachsen werden. Er wird sich immer unmündig fühlen.”

“Was es heute unter anderem schwierig macht, erwachsen zu werden, ist das Internet. … Erstens entfremdet uns die permanente Aufforderung zur Selbstdarstellung in den sozialen Medien vom eigenen Selbst. Statt um eine gesunde Selbstliebe geht es darum, sich zu verkaufen. Man muss sich permanent durch die Augen der anderen betrachten. … Es ist sehr schwer, sich dem Druck zu entziehen.

“Wir müssen Selbstliebe lernen, die nicht von den Augen anderer abhängt. Wer nicht weiss, wer er ist, kann auch nicht selbständig denken.”

“Das zweite Problem mit dem Internet sind die Möglichkeiten der Zerstreuung …”

aus: Wir Berufsjugendlichen. Susan Neiman interviewt durch Ulrike Frenkel, Stuttgarter Zeitung, 7.3.15 [im Scan auf der Webseite der Interviewten],
und aus: Muss Erwachsenwerden wehtun? (Eva Illouz und) Susan Neiman interviewt durch Caspar Shaller und Lars Weisbrod, Zeit 3.9.15, Zeit-Online 17.9.15 [bei Zeit-Online]
und aus: Wer will denn nochmal 18 sein! Susan Neiman imInterview mit Regula Freuler, Neue Züricher Zeitung, 24.2.15 [bei NZZ online]
und aus: De vijf beste volgens Susan Neiman. Befragt durch Toske Andreoli, De Groene Amsterdammer, 01.12.14 [online]
und aus: Je jeugd is zeker niet de beste tijd van je leven. Susan Neiman interviewt durch Mischa Cohen, Vrij Nederland, 20.11.14 [online]
hier von mir um- und zusammengestellt …

Abb.: Arman Jamparing: Grow Up, 2013, indoartnow, im Internet.

09/15

21/09/2015 (0:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Ablasshandel

“Das gute Gewissen ist … käuflich geworden. Mit Produkten aus einem Bio-Supermarkt oder Eine-Welt-Laden kann man … eine Portion davon erwerben. … Je größer die Preisdifferenz zu Produkten ohne Gewissensfaktor ist, desto größer ist das Potential dafür, zum guten Menschen zu werden. … Für … [die Ärmeren] bleibt das gute Gewissen ein knappes Gut, womit sie einmal mehr in ein gesellschaftliches Abseits zu geraten drohen, während andere immer mehr Gewissenswohlstand anhäufen können. Letztere sind also in einer ähnlichen Position wie im Mittelalter die Käufer von Ablassbriefen. … Man … will sich als guten Menschen erfahren und … ein wenig Seelenheil für sich verbuchen …

… warum ist das gute Gewissen überhaupt ein so begehrtes Gut und konnte zu einem zentralen Gegenstand der Werbung werden? Das setzt voraus, dass heutzutage viele Menschen … von schlechtem Gewissen geplagt sind. … Sie treibt das Gefühl um, so viel Komfort, Freiheit und Abwechslung … könnten nicht wirklich verdient sein. …

Studien belegen, dass Menschen, sobald sie Bio-Produkte oder Artikel, auf denen Moral-Vokabeln zu lesen sind, auch nur sehen, rigider und intoleranter in ihren Urteilen werden. Offenbar fühlen sie sich dann zu mehr Härte, aber ebenso zu größerer sozialer Gleichgültigkeit berechtigt, verheißt ihnen ihr Produktumfeld doch, selbst auf der richtigen Seite zu stehen. Entsprechend trifft man bei Gewissenskonsumenten immer wieder auf Spitzen und abschätzige Bemerkungen gegenüber den Menschen aus einfacheren Milieus. Deren Lebensstil wird mit Viel-Fernsehen, Computerspielen und Dickwerden assoziiert und … diskreditiert. …

Solange … [die gewissensstolzen Konsumbürger] zur Verschärfung sozialer Differenzen beitragen, … produzieren … [sie] mit ihrer Fixierung auf das gute Gewissen … Gegenbewegungen. … Konsumproletarier werden … die um sich greifenden Rauchverbote genauso als gegen sich gerichtet interpretieren wie Überlegungen, die Höhe der Krankenkassenbeiträge von Ernährungsgewohnheiten abhängig zu machen. Und sie werden sich für die Marken interessieren, die von Gewissensbürgern zu Symbolen des Bösen gebrandmarkt wurden. …

Doch auch bei den Gewissenskonsumenten selbst sind Rebound-Effekte wahrscheinlich. Gerade weil es so leicht ist, viel gutes Gewissen zu erwerben, kann der Eindruck entstehen, zwischendurch sei ein wenig Sünde erlaubt. … Auf diese Weise etabliert sich bei Konsumenten ein Schuld-Sühne-System, bei dem schlechtes Konsumverhalten durch gutes heilbar erscheint, eine verantwortungsvolle Kaufentscheidung aber auch als Lizenz für eine leichtfertige fungiert oder sogar Lust darauf macht.”

aus: Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S.127-157.

Abb.: Eko Nugroho: Ancient Mentality, artjog 11/2018, oumagz, im Internet.

09/15

14/09/2015 (1:30) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Energie

“Mittlerweile … ist von Energie und Power auch bei Haargel und Deos, manchmal sogar bei Fahrradhelmen und Skiern die Rede, also bei Produkttypen, die nicht direkt auf den Stoffwechsel einwirken. … Alles, was dem Konsumenten mehr Selbstvertrauen geben kann oder ein Ungenügen behebt, wird als aufbauend empfunden und lässt sich zum Energieschub verklären. Dabei … reduziert … [die Energie-Metaphorik] Gefühle des Unwohlseins auf Treibstoffmängel, so als ob sei ein Organismus eine Maschine, die nur mit den richtigen Substanzen versorgt werden muss, um tadellos zu funktionieren. Der Mensch wird zum Akku, den man aufladen kann. …

… ähnliche Symptome des Unwohlseins [wurden] um die Wende zum 20. Jahrhundert noch anders interpretiert. Damals deutete man Konzentrationsschwäche, Unruhe, Lethargie oder Dauermüdigkeit als Beleg dafür, dass der Körper für die moderne Arbeits– und Technikwelt generell nicht geschaffen sei …

Die antimodernistische Diagnose einer Maßlosigkeit blieb … über mehr als ein Jahrhundert hinweg unverändert, doch wurde sie einmal so interpretiert, dass das Individuum zu viel aufnehmen muss, das andere Mal hingegen damit erklärt, dass es zu viel geben muss. …

So kann man beim französischen Soziologen und Psychologen Alain Ehrenberg, dessen 1998 erschienenes Buch Das erschöpfte Selbst mittlerweile als maßgebliche Analyse von Burnout-Syndrom und Depression gilt, nachlesen, der darunter Leidende ‘hat keine Energie …’ … Doch woraus die nötige Energie bestehen soll, ob und wie sie messbar ist, ja, wie man auf sie Einfluss nehmen kann, blendet Ehrenberg aus. …

Wer Ehrenberg liest, wird sich danach genauso von Energiearmut bedroht sehen wie jemand, der von einem Werbetexter eingeredet bekommt, endlich mehr für seinen Energiehaushalt tun zu müssen. …”

aus: Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin: Wagenbach 2013, S.111-114.

Abb.: Luc Schuiten, in: ders.: Vers une cité végétale, Wavre: Mardaga 2010, S.31.

09/15

14/09/2015 (0:56) Schlagworte: DE,Lesebuch ::