MALTE WOYDT

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Beleidigtsein

“… Was wir momentan erleben, ist das Gegenteil lockerer oder sogar humorvoller Contenance in notwendigen Diskursen. Stattdessen kultiviert unsere Gesellschaft ein individuelles Recht auf Beleidigtsein: Mit heiligem Eifer sucht man unentwegt nach Gründen, weshalb man sich mal wieder so richtig schön auf den Schlips oder Schmerzempfindlicheres getreten fühlen könnte. …

Auf Inhalte, die polemisch, ironisch, zugespitzt, pointiert, spöttisch, schwarzhumorig oder provokant sind, die dem Zeitgeist entschieden widersprechen, den Mainstream konterkarieren oder einer vordergründigen Moral bewusst nicht gehorchen wollen, gibt es immer häufiger eine einzige reflexhafte Reaktion: heftigste Empörung, drastische Diskriminierungsvorwürfe und pauschale Anschuldigungen.

‘Na und?’, könnte man sagen – dann sollen diejenigen, die sich permanent angegriffen fühlen, doch einfach dauerbeleidigt sein. Betrifft ja nur sie selbst. Aber das stimmt leider nicht. Denn wer schmollt, zieht sich zurück, will nicht mehr zuhören, boykottiert bewusst jeden Dialog und verhindert so letztlich die Chance auf eine konstruktive Debatte und die Annäherung über Argumente.

Die Tendenz zu inflationärem Beleidigtsein ist Gift für unsere Diskurskultur. Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, in schwierigen Streitfragen miteinander im Gespräch zu bleiben, und die stattdessen mit Anschuldigungen um sich wirft, verhärtet sukzessive ihre ideologischen Fronten und erzeugt ein Klima der Feindseligkeit, das Kompromisse irgendwann unmöglich macht. …

Das zentrale Problem der Beleidigten sämtlicher Fraktionen ist längst, dass immer weniger faktische Kränkung ausreicht, um immer mehr empfundene Kränkung auszulösen. …

Wie konnte es bloß dazu kommen, dass in Diskursen immer seltener mit Argumenten und immer häufiger mit Emotionen gepunktet wird? Und warum führen wir keine breite Debatte darüber, wohin uns diese Entwicklung bereits gebracht hat und noch bringen könnte? …

Warum mitunter lieber Affekte ins Feld geführt werden, als Inhalte, ist relativ leicht zu beantworten: Drangsalierten Emotionen lässt sich kaum etwas entgegensetzen. Was soll man schon jemandem antworten, der darüber klagt, dass ihm eine Meinungsäußerung, eine Satiresendung, ein Werbespot oder eine Karikatur gravierende seelische Qualen bereitet? …

Der Humanist tendiert hier verständlicherweise zu Bedauern und Mitgefühl. Das zeichnet ihn aus. Einem gepeinigten Individuum muss geholfen werden, erst recht, wenn es einer Minderheit angehört und ohnehin nicht viel zu lachen hat. Doch diese gut gemeinte Haltung lässt einen unauslöschlichen menschlichen Charakterzug außer Acht, der da lautet: genug ist nie genug.

Gibt man dem Wunsch nach, durch rigidere Sprachregelungen, Zensur und öffentliche Ächtung möglichst viele ‘verletzende’ Inhalte aus der Welt zu verbannen, wird man erleben, dass es plötzlich immer mehr ‘verletzende’ Inhalte gibt.

Sämtliche Randgruppen melden dann noch mehr Ansprüche an, neue Randgruppen erfinden sich. Jeder will mal. Schon bald fühlen sich sämtliche Mütter durch das Wort ‘Vaterland’ diskriminiert – und sämtliche Väter durch das Wort ‘Muttersprache’. Die Bundesrepublik wird zur Mimosen-Zuchtstation. Und das politisch-korrekte Element noch bestimmender, als es ohnehin schon ist. Die Maßstäbe dafür, wer wirklich beleidigt wurde, wer sich glaubhaft beleidigt fühlen darf, verschwimmen endgültig. …

Beschäftigt man sich mit Paragraf 185 des Strafgesetzbuches, lernt man, dass … hinter einer justiziablen Beleidigung … der Wille des Täters erkennbar sein [muss], beleidigen zu wollen. …

Wenn wir unsere liberale Normalität und unsere nahezu uneingeschränkte Kunstfreiheit langfristig erhalten wollen, müssen wir endlich zu der Einsicht kommen, dass sich hinter überbordenden Shitstorms und permanent ‘verletzten Gefühlen’ keine menschlichen Tragödien verbergen, die es zu bedauern gilt. …

Wer persönlich angegriffen und beleidigt wird, dem bietet der Rechtsstaat juristische Handhabe. Ideologien, Weltanschauungen und politische Überzeugungen aber sind keine Individuen. Sie sind geistige Angebote, die man befürworten oder ablehnen kann. Und zwar genauso harsch und ätzend wie man es möchte. …”

aus: Simon Urban: Debattenkultur: Ein Volk der Beleidigten. Zeit-Online, 31. Juli 2016, im Internet

07/16

31/07/2016 (22:42) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wellness

[EN]

“Der … [Gesellschaftsvertrag] bricht langsam in sich zusammen und so entsteht dieser moderne Wahn nach sauberem Essen, gesundem Leben, persönlicher Produktivität und der ‘radikalen Selbstliebe’ … Je angsteinflößender die wirtschaftliche Zukunft wirkt, desto öfter geht es in der öffentlichen Debatte um individuelle Erfüllung, als wäre das ein verzweifelter Versuch, uns einzureden, dass wir noch Kontrolle über unser Leben hätten. …

Kann all dieses positive Denken also schaden? Carl Cederström und André Spicer, Autoren des Buchs The Wellness Syndrom, sind davon überzeugt. Sie argumentieren, dass versessene Rituale zur Selbstsorge auf Kosten des gemeinschaftlichen Engagements gehen. So wird jedes soziale Problem zu einer persönlichen Frage. ‘Wellness’, sagen sie, ‘wurde zur Ideologie.’ …

Dank Camerons Änderungen im Sozialhilfesystem wurde Arbeitslosigkeit zur psychischen Krankheit. Wir befinden uns in der längsten und schlimmsten Rezession der Geschichte – dennoch sollten … Arbeitslose ihren ‘psychischen Widerstand‘ behandeln, indem sie Kurse besuchen, die ihnen helfen, ihrer Verelendung positiver gegenüber zu stehen. …

Die Wohlfühl-Ideologie ist ein Symptom einer breiteren politischen Krankheit. … Wir sollen glauben, dass [allein] Arbeit [an uns selbst] unser Leben verbessern kann. …

Die Wellness-Ideologie … überzeugt … uns davon, dass es kein wirtschaftliches Problem ist, wenn wir krank, traurig und erschöpft sind. …  Die Gesellschaft ist nicht verrückt oder kaputt: Du bist es. … [Diese Ideologie] hindert … uns daran, eine breitere, kollektive Reaktion auf Armut, Ungerechtigkeit und die kriselnde Arbeitswelt zu finden. …

Alles, was du brauchst, um dein Leben zu ändern, sind ein paar Mantras und ein Terminkalender. Ähnlich beruhigend war einmal der Gedanke: Die Entbehrungen dieser Existenz werden eines Tages im Himmel belohnt.  Es gibt einen Grund, warum die Wohlfühlpraktiken so gut strukturiert sind wie Kulte (tu dies und du wirst gerettet; tu dies und du bist sicher): Sie sind ein Glaubensritual. …

Nachdem die Wohlfühl-Sprache vor allem von der politischen Rechten bedient wird, ist es nicht verwunderlich, dass [bei] fortschrittliche[n], liberale[n] und linke[n] Gruppen … positives Denken [vollkommen aus der Mode geriet] …

Die ängstliche Jugend scheint [heute] die Wahl zu haben zwischen verzweifeltem Narzissmus und niederschmetterndem Elend. Was ist besser? …

Das Problem mit der Selbstliebe, wie wir sie gerade verstehen, ist, dass wir Liebe an sich zu einfach definieren, mit Herzchen und Blumen, Fantasie[,] … rituellem Konsum [und herzloser Leidenschaft]. Die Moderne macht uns zu betrübten, ein bisschen gruseligen [Selfie-nehmenden] Teenagern, die sich selbst sagen, wie besonders und perfekt sie sind. Das ist … [aber gar keine echte] Selbstliebe …

Die härtere, langweiligere Art der Selbstsorge besteht aus täglichen, unmöglichen Mühen, aufzustehen und durch das Leben zu kommen, in einer Welt, die dich lieber niedergebückt und angepasst sieht. … Echte Liebe… ist kein Gefühl, sondern … eine Handlung. Es geht darum, was du für andere tust – über Tage, Wochen und Jahre. Es ist die Art der Liebe, die wir uns am wenigsten zugestehen, gerade in der politischen Linken.

Die meisten Linken könnten viel von der Queer-Community lernen, [für die schon lange] … für sich selbst und für ihre Freunde [zu sorgen nicht ein Nebenaspekt des Kampfes ist, sondern in vielerlei Hinsicht der Kampf selber]. … Die Wohlfühl-Ideologie mag ausbeuterisch sein, und die Tendenz der Linken, Verzweiflung zum Fetisch zu erklären, ist verständlich, aber sie ist nicht akzeptabel. Wenn wir unsere Energie daran verschwenden, uns selbst zu hassen, wird sich nichts ändern. Wenn Hoffnung zu schwierig zu handhaben ist, dann können wir uns wenigstens um uns selbst kümmern. An meinen dunkelsten Tagen erinnere ich mich an die Worte der Poetin und Aktivistin Audre Lorde, die viel über das Überleben in einer unmenschlichen Welt wusste, und die schrieb: ‘Selbstsorge ist kein überflüssiger Luxus, es ist Selbsterhaltung, und die ist ein Mittel politischer Kriegsführung.'”

aus: Laurie Penny: Die Wohlfühl-Lüge, ZEIT-Online, 19.7.16 [im Internet], habe mir erlaubt die ZEIT-Übersetzung anhand des englischen Originals ein wenig zu verbessern :-)

Abb.: Renzo Martens: Enjoy poverty, 2009, im Internet.

07/16

20/07/2016 (1:22) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Wellness

[DE]

“… The slow collapse of the social contract is the backdrop for a modern mania for clean eating, healthy living, personal productivity, and “radical self-love” … The more frightening the economic outlook and the more floodwaters rise, the more the public conversation is turning toward individual fulfillment as if in a desperate attempt to make us feel like we still have some control over our lives. …

Can all this positive thinking be actively harmful? Carl Cederström and André Spicer, authors of The Wellness Syndrome, certainly think so, arguing that obsessive ritualization of self-care comes at the expense of collective engagement, collapsing every social problem into a personal quest for the good life. ‘Wellness,’ they declare, ‘has become an ideology.’ …

As part of Cameron’s changes to the welfare system, unemployment was rebranded as a psychological disorder. … in the teeth of the longest and deepest recession in living memory, the jobless were encouraged to treat their ‘psychological resistance‘ to work by way of obligatory courses that encouraged them to adopt a jollier attitude toward their own immiseration. …

The wellbeing ideology is a symptom of a broader political disease. … We are supposed to believe that we can only work to improve our lives on that same individual level. …

The isolating ideology of wellness … persuades all us that if we are sick, sad, and exhausted, the problem isn’t one of economics. … Society is not mad, or messed up: you are. … [This ideology] prevents us from even considering a broader, more collective reaction to the crises of work, poverty, and injustice. …

It would be nice to believe that all it takes to change your life is to repeat some affirmations and buy a planner, just as it was once comforting for many of us to trust that the hardships of this plane of existence would be rewarded by an eternity of bliss in heaven. There is a reason that the rituals of wellbeing and self-care are followed with the precision of a cult (do this and you will be saved; do this and you will be safe): It is a practice of faith. …

With the language of self-care and wellbeing almost entirely colonized by the political right, it is not surprising [on the other hand] that [with] progressives, liberals, and left-wing groups … positive thinking has become deeply unfashionable. …

Anxious millennials now seem to have a choice between desperate narcissism and crushing misery. Which is better? …

The problem with self-love as we currently understand it is in our view of love itself, defined, too simply and too often, as an extraordinary feeling that we respond to with hearts and flowers and fantasy, ritual consumption and affectless passion. Modernity would have us mooning after ourselves like heartsick, slightly creepy teenagers, taking selfies and telling ourselves how special and perfect we are. This is not real self-love …

The harder, duller work of self-care is about the everyday, impossible effort of getting up and getting through your life in a world that would prefer you cowed and compliant. … Real love … is not a feeling, but … an action. It’s about what you do for another person over the course of days and weeks and years, the work put in to care and cathexis. That’s the kind of love we’re terribly bad at giving ourselves, especially on the left.

The broader left could learn a great deal from the queer community, which has long taken the attitude that caring for oneself and one’s friends in a world of prejudice is not an optional part of the struggle – in many ways, it is the struggle. … The ideology of wellbeing may be exploitative, and the tendency of the left to fetishize despair is understandable, but it is not acceptable – and if we waste energy hating ourselves, nothing’s ever going to change. If hope is too hard to manage, the least we can do is take basic care of ourselves. On my greyest days, I remind myself of the words of the poet and activist Audre Lorde, who knew a thing or two about survival in an inhuman world, and wrote that self care ‘is not self-indulgence – it is self-preservation, and that is an act of political warfare.’

aus: Laurie Penny: Life-Hacks of the Poor and Aimless. On negotiating the false idols of neoliberal self-care The Baffler, July 08, 2016 [im Internet]

Abb.: Renzo Martens: Enjoy poverty, 2009, im Internet.

07/16

20/07/2016 (0:29) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Nuit debout

“… Bref : qui peut se représenter ses intérêts particuliers comme les intérêts du ‘‘peuple’ ? Ce sont évidemment ceux que l’on retrouve sur les places : les individus de la petite bourgeoisie blanche urbaine appartenant souvent à la fonction publique ou aux milieux culturels et étudiants. Ces individus, très situés dans le monde social, incarnent la norme abstraite sur laquelle la citoyenneté républicaine est construite. Ils sont donc prédisposés à se voir comme exprimant  ‘la’ citoyenneté et  ‘la’ république. Lorsqu’ils font quelque chose, c’est pour eux ‘le peuple’ qui fait quelque chose. Lorsqu’ils se rassemblent, ce n’est pas un groupe spécifique qui se rassemble : c’est le ‘commun’ qui émerge… C’est ce qui explique pourquoi le mouvement s’est fondé sur l’idée irresponsable selon laquelle il ne fallait rien revendiquer ou que revendiquer c’était se soumettre. On pourrait presque se risquer à dire que font partie de ce mouvement des gens qui n’ont rien à revendiquer parce qu’ils ne manquent de rien, et qui n’ont donc rien à demander si ce n’est ‘la fin du système‘.

Une scène politique organisée autour des catégories de ‘commun’, de ‘République sociale’, de ‘souveraineté populaire’ ne peut pas ne pas produire l’exclusion de celles et ceux qui ne peuvent à l’inverse que se penser comme membre d’un groupe particulier : les ouvriers, les chômeurs, les paysans, les précaires, les noirs, les arabes, les musulmans, les juifs, les gays et lesbiennes, les prisonniers, les sans-papiers, etc. Car lorsqu’ils se mobilisent, ces individus qui vivent ces expériences d’oppression veulent affirmer un intérêt particulier, revendiquer quelque chose, dire que quelque chose ne va pas. Ils ne veulent pas créer du commun mais fracturer le monde. …

D’où les scènes d’incompréhension que l’on a observé entre la Nuit debout et les quartiers nord de Marseille, ou entre nuit debout et les syndicats. …”

aus: Geoffroy de Lagasnerie: D’Occupy à Nuit Debout : l’inconscient politique du mouvement des places. Le Monde 28.4.16 und auf dem Blog des Autors.

07/16

04/07/2016 (21:22) Schlagworte: FR,Lesebuch ::