MALTE WOYDT

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Kolonialismus

“Ganze Jahrhunderte lang hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und zu seinem Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen eines angeblichen ‘geistigen Abenteuers’ fast die gesamte Menschheit erstickt. …

Mit Energie, Zynismus und Gewalt hat Europa die Führung der Welt übernommen. … Jede Bewegung Europas hat die Grenzen des Raumes und des Denkens gesprengt. Europa hat jede Demut, jede Bescheidenheit zurückgewiesen, aber auch jede Fürsorge, jede Zärtlichkeit. …

Dieses Europa, das niemals aufgehört hat, vom Menschen zu reden, niemals aufgehört hat, zu verkünden, es sei nur um den Menschen besorgt: wir wissen heute, mit welchen Leiden die Menschheit jeden der Siege des europäischen Geistes bezahlt hat. …

Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen, auf eine Lawine von Morden. …

Alle Elemente einer Lösung der großen Probleme der Menschheit sind zu verschiedenen Zeiten im Denken Europas aufgetaucht. Aber in seinem Handeln hat der europäische Mensch die ihm zufallende Mission nicht erfüllt. …

Europa hat gemacht, was es tun mußte, und alles in allem hat es seine Sache gut gemacht. Hören wir auf, es anzuklagen, aber sagen wir ihm ins Gesicht, daß es nicht mehr soviel Wind machen soll. Wir haben es nicht mehr zu fürchten, hören wir also auf, es zu beneiden. …

Für die Dritte Welt geht es darum, eine Geschichte des Menschen zu beginnen, die den von Europa einst vertretenen großartigen Lehren, aber zugleich auch den Verbrechen Europas Rechnung trägt, von denen die verabscheuungswürdigste gewesen sein wird: beim Menschen die pathologische Zerstückelung seiner Funktionen und die Zerstörung seiner Einheit; beim Kollektiv der Bruch, die Spaltungen; und schließlich auf der unermeßlichen Ebene der Menschheit der Rassenhaß, die Versklavung, die Ausbeutung und vor allem der unblutige Völkermord, nämlich das Beiseiteschieben von anderthalb Milliarden Menschen. …”

aus: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Reinbek: Rororo 1969 (frz. Orig.-Ausg.1961, dt. Orig.-Ausg. 1966), S. 239-242.

Abb.: Tatang Ramadhan Bouqie: Careless Comedy – The Colonial’s Fantasy, 2015, indoartnow, im Internet.

 

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28/01/2017 (13:44) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Entkolonisierung 2

(NL)

“Der Kapitalismus sah in seiner Blütezeit in den Kolonien eine Quelle von Rohstoffen, die nach ihrer Verarbeitung auf den europäischen Markt geworfen werden konnten. Nach einer Phase der Akkumulation des Kapitals kommt er heute dazu, seine Auffassung von der Rentabilität eines Geschäfts zu modifizieren. Die Kolonien sind ein Markt geworden. Die Kolonialbevölkerung ist eine kaufende Kundschaft. Wenn jetzt aber die Garnison ewig verstärkt werden muss, wenn der Handel nachlässt, das heißt, wenn die Fertigwaren nicht mehr exportiert werden können, so beweist das, dass die militärische Lösung keine Lösung mehr ist. Eine blinde Herrschaft nach Sklavenhaltergeschmack ist für das „Mutterland“ wirtschaftlich nicht rentabel. …

Die Wahrheit ist, daß heute kein kolonialistisches Land in der Lage ist, die einzige Kampfform zu wählen, die eine Erfolgschance hätte: die fortgesetzte Stationierung einer starken Besatzungsmacht. …

Der Kapitalismus sieht also ein, daß seine militärische Strategie ausgespielt hat, wenn sich die nationalen Befreiungskriege ausbreiten. Deshalb müssen im Rahmen der friedlichen Koexistenz alle Kolonien verschwinden. …

Eine ernsthafte Bilanz der Anbaumöglichkeiten und der Bodenschätze war nie gezogen worden. Aus diesen Gründen sieht sich die junge, unabhängige Nation gezwungen, die vom Kolonialregime errichteten Handelsbeziehungen aufrechtzuerhalten. …

Die westlichen Finanzgruppen … wollen keinerlei Risiko eingehen. Daher fordern sie eine politische Stabilität und ein ruhiges soziales Klima, Bedingungen, wie sie angesichts des Elends der Bevölkerung, unmittelbar nachdem die Unabhängigkeit erreicht ist, unmöglich zu erfüllen sind. … Die Privatgesellschaften setzen ihre eigne Regierung unter Druck damit sie in eben diesen Ländern militärische Stützpunkte errichtet, die den Auftrag haben, ihre Interessen zu schützen. Schließlich verlangen diese Gesellschaften von ihrer Regierung Bürgschaften für alle Investitionen, die sie in unterentwickelten Ländern vornehmen wollen. …

Die nationale Bourgeoisie gefällt sich ohne Komplexe  und voller Würde in der Rolle eines Geschäftsvertreters der westlichen Bourgeoisie. Diese lukrative Rolle, diese Kleinverdiender-Funktion, diese Enge der Gesichtspunkte, dieses Fehlen eines größeren Ehrgeizes zeigen die Unfähigkeit der nationalen Bourgeoisie, die historische Rolle einer Bourgeoisie zu erfüllen. Der dynamische Aspekt – Pioniere, Erfinder, Weltentdecker – … fehlt hier in kläglicher Weise. … Bei ihrer Dekadenz wird die nationale Bourgeoisie von den westlichen Bourgeoisien beträchtlich unterstützt, die jetzt als Touristen auftreten, verliebt in Exotismus, Jagd und Casinos. … Die nationale Bourgeoisie … macht ihr Land zu einem Bordell Europas. …

Es gibt keine Modernisierung der Landwirtschaft, keinen Entwicklungsplan, keine Initiativen, denn schon Initiativen, die ein Minimum an Risiko einschließen, würden in diesen Kreisen eine Panik hervorrufen. … Die eingesteckten Profite, die im Vergleich zum Nationaleinkommen enorm sind, werden nicht wieder investiert. … Dagegen werden bedeutende Summen für Luxusgüter ausgegeben. …

Während die nationale Bourgeoisie in einen Wettstreit mit den Europäern tritt, beginnen die Handwerker und die kleinen Berufe einen Kampf gegen die nicht nationalen Afrikaner. An der Elfenbeinküste sind es die regelrecht rassistischen antidahomeischen und antivoltaischen Aufstände. …

Vom Nationalismus sind wir zum Ultra-Nationalismus, zum Chauvinismus, zum Rassismus übergegangen. … Die nationale Bourgeoisie … hat das kolonialistische Denken bis in seine verfaultesten Wurzeln hinein angenommen; … Durch ihre Trägheit und Nachäfferei begünstigt sie die Einpflanzung und Verstärkung des Rassismus, der die koloniale Ära kennzeichnete. …”

aus: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Reinbek: Rororo 1969 (frz. Orig.-Ausg.1961, dt. Orig.-Ausg. 1966), S. 50, 57, 61, 78, 81, 118, 119, 120, 125.

Abb.: Michel Lafleur / Tom Bogaert: Famasi Mobil Kongolè, Teil von Atis Rezistanz Kollektiv: Documenta15-Installation, Detail, 2022.

Abb.: Arman Jamparing Seri: Capital Riot #5, 2014, Detail, indoartnow, im Internet.

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28/01/2017 (13:24) Schlagworte: DE,Lesebuch ::