“Mein Bedürfnis, mich … zu positionieren, ist längst erloschen. Ebenso mein Wunsch, ‘Farbe zu bekennen’. Jetzt noch mutig sein und aussprechen, was ohnehin für jedermann sichtbar ist? … Ich bin weder bestürzt noch empört. Nicht mehr. Jegliches Gefühl des Entsetzens hat sich längst abgenutzt. …
Ich bin … durch eine Phase tiefen Grolls gegangen, eine Phase, die zugleich geprägt war von der Lust auf Widerspruch. ….. Zehn Jahre lang, Woche für Woche … meinte ich, durch meine Tätigkeit als politische Kommentatorin unmittelbaren Einfluß auf den Meinungsbildungsprozeß nehmen zu müssen. …
Langsam stellte sich aber heraus, dass die Dynamik des Rechtsrucks gerade aus diesem Reaktionsmuster erwächst. … Schweigt man, käme es einer Duldung gleich. Wenn man aber reagiert, hat man das Spiel in Kenntnis der Methode mitgespielt. Wie also Einspruch erheben? Der Schlüssel ist, die Methode Widerspruch ohne Konsequenz in Widerspruch durch Konsequenz zu ändern. …
All denen, die meinen, mit Haltung in Form von permanentem, rhetorischen Widerstand gegen Demokratiefeinde auf der Gewinnerseite zu stehen, sei gesagt: Vergesst es! Indem wir uns ständig mit ihnen beschäftigen und versuchen, sie zu integrieren, sorgen wir nicht dafür, dass sie klüger und offener werden. Sie wollen uns zermürben. … Sie arbeiten seit Jahrzehnten unermüdlich und strategisch an der Umsetzung ihrer Ideen. … Sie wollen, dass wir aufhören, selbstständig zu denken. Zu träumen. Sie wollen, dass wir ein schlechtes Gewissen bekommen, weil wir lieben, statt zu hassen. … Kurz: Sie wollen, dass wir genauso abgestumpfte Idioten werden wie sie. …
Alles, was ich über das Menschsein weiß, verdanke ich letztlich einer Handvoll Leute. … Die Haltung, die ihrem Handeln zugrunde liegt, ist wie ein Licht. Es beleuchtet ihr Tun, wo sie auch stehen, wo sie auch gehen. Zufall oder nicht: Sie teilen eine Charaktereigenschaft, die sie für mich erhaben und würdevoll strahlen lässt – sie sind großzügig und zurückhaltend. …
Was … ist Haltung? Inwiefern unterscheidet sie sich von Meinung und Gesinnung? … Für Aristoteles handelte es sich bei Haltung um Tugenden, die durch Erziehung und Gewöhnung angeeignet werden. … Man handelt aus Grundüberzeugungen, die man Haltung nennt und die sich auf unser Denken, Fühlen und Handeln auswirken. …
In dem, was ich über Haltung las, ging es häufig darum, wie man etwas tut oder warum man etwas tut. Ich glaube aber, dass leben an sich auch schon eine Haltung darstellt. … Man stelle sich eine Gruppe von Menschen vor, die einen Kollegen mobben. … Alle machen mit … bis auf einen. Er stellt sich weder schützend vor das Opfer, noch greift er anderweitig ein. … Ja vielleicht ist er sogar ein armseliges, feiges Würstchen. Dennoch hat auch dieses Würstchen für sich eine Grenze definiert: Er will nicht Teil einer Gruppe sein, deren Verhalten er falsch findet … vielleicht zieht er sich auch nur intuitiv zurück. Trotzdem beweist er Haltung, indem er eine Entscheidung trifft, nämlich die, nicht mitzumachen. Damit hat er bei aller Schwäche dutzendfach mehr Rückgrat bewiesen als die ganze Abteilung. …
Ich wünsche Mut zum Leisesein.”
aus: Mely Kiyak: Haltung. Berlin: Duden 2018.
12/18