MALTE WOYDT

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Rußland 1

“Willst du als Rekrut überleben, musst du zuerst zum Sklaven werden, deine Menschenwürde fahren lassen. Später wirst du von einem Sklaven zu einem Herrn, nun bist du an der Reihe, die Neuen zu prügeln, ihnen in die Stiefel zu pissen, sie eine mit Schuhwichse beschmierte Brotscheibe essen zu lassen, ihnen die von zu Hause zugeschickten Lebensmittel wegzunehmen.

Die meisten russischen Männer absolvieren diese Sklavenausbildung und tragen die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in jede Familie. Die Brutalität in Alltagskonflikten in meinem Land ist erschreckend. Toleranz ist so gut wie unbekannt. …

Monatlich starben (in der Friedenszeit!) durchschnittlich 88 Soldaten und Offiziere, das macht jährlich 1064 Soldaten, 276 von ihnen durch Selbstmord und 16 durch physische Misshandlungen der Vorgesetzten und anderer Soldaten.

Das waren die Zahlen aus offenen Quellen. Später begann die Putin’sche Armeereform. In den letzten Jahren wurden solche Daten … geheim gehalten. …

Es war gang und gäbe, dass Kommandanten an tschetschenische Rebellen Waffen und Informationen verkauften, mit anderen Worten: das Leben ihrer eigenen Soldaten.

Der bekannte Journalist Arkadi Babtschenko, der selber in Tschetschenien gekämpft hatte, formulierte den berühmt gewordenen Grundsatz der Soldatenmoral in der russischen Armee: ‘Deine Heimat wird dich immer im Stich lassen, mein Sohn, immer.’ …

Was die Kriegsführung in der Ukraine betrifft, so gilt für die russische Armee die gleiche bewährte Taktik wie in allen früheren Kriegen: unermüdlich Soldatenmassen zu verfeuern. Russland hat einen Vorteil, der der gesamten zivilisierten Welt vorenthalten bleibt: Putin kümmert sich nicht darum, wie viele Tausende oder Zehntausende Soldaten er in der Ukraine opfert. …

Putin lehnte das Angebot des IKRK ab, die Leichen russischer Soldaten aus der Ukraine nach Russland zu überführen. Das ist alles, was man über die Beziehungen zwischen der Macht und dem Fußvolk in meinem Land wissen muss.”

aus: Michail Schischkin: Hungern, leiden, fliehen: Putins Armee ist eine Sklavenschule, Tagesspiegel Online, 30.3.22, im Internet.

03/22

30/03/2022 (23:32) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

China 4

“Die USA verlieren relativ gesehen an Bedeutung, weil China rasant aufsteigt, sie verlieren aber nicht im absoluten Sinn. Die USA sind immer noch der wichtigste Markt, haben die kreativste Bevölkerung, stehen in der Wertschöpfungskette zwei Stufen über China. Chinesische Ökonomen oder Wissenschaftler sehen das ganz klar. Ich warne meine Landsleute immer wieder: Selbst wenn China zur Volkswirtschaft Nummer eins aufsteigt, bedeutet das nichts.

1820 war China die Nummer eins und erwirtschaftete ein Drittel des Welt-BIP. Die westeuropäischen Großmächte kamen zusammen auf sieben Prozent. Zwanzig Jahre später zwang das britische Imperium China in die Knie.”

aus: Zheng Yongnian: Grenzenlose Freundschaft? Interview durch Xifan Yang, Zeit Online, 18.3.22, im Internet.

03/22

18/03/2022 (19:13) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Politikunfähigkeit

Putin ist Putin, und er hat nie vorgegeben, etwas anderes zu sein als Putin. Kein Despot muss sich die Mühe machen, den Westen zu täuschen, der Westen täuscht sich schon selbst. …

Wo war die breitere gesellschaftliche Debatte darüber, wie abhängig wir uns von Putin machen dürfen? Es gab tatsächlich keinen Plan B für den Katastrophenfall, der jetzt eingetreten ist. Wir sind abhängig; sorry, auf jeden Fall bis zum Winter untergraben wir unsere eigenen Sanktionen gegen Putin! Der beste Rat bisher ist, dass wir Strom sparen sollen, es gibt ja auch Pullis.

Es sind eben solche Vorschläge, die zeigen, wie wenig geübt die deutsche Öffentlichkeit noch darin ist, über die Lage der Welt nachzudenken. Heizung an- und ausdrehen, das können wir anscheinend verarbeiten, aber das Wissen über Geopolitik, die Bedeutung Deutschlands oder gar der liberalen Demokratien in der Welt ist kaum ein Thema in den Alltagsgesprächen dieses Landes. Politik ist in Deutschland eine immer kleinteiligere Frage geworden. …

In Deutschland lieben wir den diskursiven Nebel. Vier Talkshows bieten uns die Öffentlich-Rechtlichen regelmäßig, alle haben fast zwei Jahre lang ausschließlich die pandemische Lage beackert. [Das] … lag … [unter anderem] daran, dass es der deutschen politischen Diskurskultur entspricht, das Klein-Klein aufzublasen …

Diese Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt eben nicht in der Lage wären, strukturelle Fragen in den Blick zu nehmen, Verbindungen zu ziehen und so nach Schaltstellen zu suchen, an denen man Größeres bewegen könnte. Dieses beharrliche Unterschätzen der demokratischen Öffentlichkeit, … man will uns … Ablenkung schenken, daher auch die Behauptung: Der erneute Angriff auf die Ukraine kam ‘plötzlich’ und ‘unerwartet’.

Wer hätte das ahnen können, fragen jetzt einige, als müsste man sich freisprechen. All das, was Putin jetzt tut, kam mit Ansage. Wir müssen anfangen, das kollektive Wegsehen aufzuarbeiten. Die Ermüdung, wenn es um die komplexen politischen Fragen der Welt geht, die Hintergrundinformationen verlangen. Es fehlen Formate, die große politische Themen auf eine Art präsentieren, dass sie zu breiten gesellschaftlichen Debatten werden …

Es braucht mehr kritische Einordnungen, eine höhere Themenvielfalt und den Abschied von der Idee, dass Menschen, nur weil sie ärmer sind oder weniger gebildet, es nicht nötig hätten, auch komplexere Fragen erläutert zu bekommen. Eine andere Ursache für die Verdrängung ist die krankhafte Fokussierung auf die eigenen Befindlichkeiten. …

Die Art, wie wir unsere Gefühle über einen Krieg, den andere führen müssen, in den Mittelpunkt unseres Redens stellen, macht mich stellenweise fassungslos. Kaum rede ich fünf Minuten mit Leuten über die Ukraine, sagt jeder Zweite zu mir: ‘Aber wir müssen auch sehen, dass es uns gut geht.’ Muss man sich bei allem fragen, ob es einem dabei gut geht? Geht es uns denn ‘schlecht’, wenn wir uns anfassen lassen von einem Krieg und seinen unschuldigen Opfern, oder geht es uns eigentlich angemessen?

Es ist, als hätte das Grauen, das Leben eben auch sein kann, keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft … Man sucht oder gibt sofort Rat, wie das Leiden wieder weggehen kann, statt eben diesen Leidensdruck als … [Aufgabe] zu erkennen …: Wir leiden an diesem Unrecht und sollten das gesellschaftlich zum Ausdruck bringen, nicht nur Ratschläge erteilen, wie es uns gelingen kann, an dem Elend nicht zu leiden. Uns abzulenken.

Es ist diese merkwürdige Verdrängung und Privatisierung von Leiden, die dazu geführt hat, dass zahlreiche gesellschaftliche Missstände nicht mehr angeprangert werden. Das Problem ist nicht, dass wir zu weich sind, sondern dass auch eine solidarische Öffentlichkeit fehlt, die gemeinsam leidet und den Verantwortlichen deutlich macht, dass man diese Inhumanität nicht dulden will. Strukturelles Denken fehlt. Aber auch der Glaube daran, dass wir gemeinsam etwas ändern können. So verdrängen viele dankbar, schlicht weil sie überfordert und vereinzelt sind.

Es wird in der Ukraine keine Geschichte von David und Goliath geben, auch wenn das eine tröstliche Hoffnung ist. Wir müssen lernen, den Schock zuzulassen, Zusammenhänge tiefer zu verstehen. Statt das Leiden zu privatisieren, ist es Zeit zu fragen: Was müssen wir tun?”

aus: Jagoda Marinić: Diskursive Unfähigkeit, taz online, 16.3.22, im Internet.

03/22

16/03/2022 (20:01) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Progress 4

“I used to believe several things about the 21st century that Vladimir Putin’s invasion of Ukraine and Donald Trump’s election in 2016 have shown me are false. I assumed:

[1] Nationalism is disappearing.

I expected globalization would blur borders, create economic interdependence among nations and regions and extend a modern consumer and artistic culture worldwide.

I was wrong. Both Putin and Trump have exploited xenophobic nationalism to build their power. (Putin’s aggression has also ignited an inspiring patriotism in Ukraine.)

[2] Nations can no longer control what their citizens know.

I assumed that emerging digital technologies, including the internet, would make it impossible to control worldwide flows of information and knowledge. Tyrants could no longer keep their people in the dark or hoodwink them with propaganda.

Wrong again. Trump filled the media with lies, as has Putin. Putin has also cut off Russian citizens from the truth about what’s occurring in Ukraine.

[3] Advanced nations will no longer war over geographic territory.

I thought that in the ‘new economy’, land was becoming less valuable than technological knowhow and innovation. Competition among nations would therefore be over the development of cutting-edge inventions.

I was only partly right. While skills and innovation are critical, land still provides access to critical raw materials and buffers against potential foreign aggressors.

[4] Major nuclear powers will never risk war against each other because of the certainty of “mutually assured destruction”.

I bought the conventional wisdom that nuclear war was unthinkable.

I fear I was wrong. Putin is now resorting to dangerous nuclear brinksmanship.

[5] Civilization will never again be held hostage by crazy isolated men with the power to wreak havoc.

I assumed this was a phenomenon of the 20th century and that 21st-century governments, even totalitarian ones, would constrain tyrants.

Trump and Putin have convinced me I was mistaken.

[6] Advances in warfare, such as cyber-warfare and precision weapons, will minimize civilian casualties.

I was persuaded by specialists in defense strategy that it no longer made sense for sophisticated powers to target civilians.

Utterly wrong. Civilian casualties in Ukraine are mounting.

[7] Democracy is inevitable.

I formed this belief in the early 1990s, when the Soviet Union had imploded and China was still poor. It seemed to me that totalitarian regimes didn’t stand a chance in the new technologically driven, globalized world. Sure, petty dictatorships would remain in some retrograde regions of the world. But modernity came with democracy, and democracy with modernity.

Both Trump and Putin have shown how wrong I was on this, too.

Meanwhile, Ukrainians are showing that Trump’s and Putin’s efforts to turn back the clock on the 21st century can only be addressed with a democracy powerful enough to counteract autocrats like them.

They are also displaying with inspiring clarity that democracy cannot be taken for granted. Democracy is not a spectator sport. It’s not what governments do. Democracy is what people do.

Ukrainians are reminding us that democracy survives only if people are willing to sacrifice for it. … You may have to knock on hundreds of doors to get out the vote. Or organize thousands to make your voices heard. And stand up against the powerful who don’t want your voices heard. You may have to fight a war to protect democracy from those who would destroy it.

The people of Ukraine are also reminding us that democracy is the single most important legacy we have inherited from previous generations who strengthened it and who risked their lives to preserve it. It will be the most significant legacy we leave to future generations – unless we allow it to be suppressed by those who fear it, or we become too complacent to care.

Putin and Trump have convinced me I was wrong about how far we had come in the 21st century. Technology, globalization and modern systems of governance haven’t altered the ways of tyranny. But I, like millions of others around the world, have been inspired by the Ukrainian people – who are reteaching us lessons we once knew.”

aus: Robert Reich: Putin and Trump have convinced me: I was wrong about the 21st century, The Guardian online, 13.3.22, im Internet.

03/22

13/03/2022 (15:15) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Erziehung

“ZEITmagazin: Verraten Sie uns bitte zum Schluss noch, was man aus der Hundeerziehung, über die Sie ein Buch geschrieben haben, über den Umgang mit Kindern lernen kann.

Halbrock: Ich bin durch Fernsehsendungen auf das Thema gestoßen. Mich hat fasziniert, wie feinfühlig Menschen geworden sind, um sich in Hundeseelen hineinzuversetzen, und wie das frühere Dominanzgebaren der Menschen den Tieren gegenüber durch respektvolle Kommunikationsmethoden abgelöst worden ist. Dann habe ich einige aktuelle Bücher über Hundeerziehung gelesen und festgestellt, dass man oft nur aus dem ‘Hund’ das Wort ‘Kind’ machen muss. Schon würden viele Leute viele scheinbare Unarten ihres Kindes besser verstehen und Anregungen für sinnvolle Erziehungsmethoden erhalten.”

aus: Gudrun Halbrock: Sehr viele Eltern haben keine Ahnung, was Kinder benötigen. Interview durch Oliver Geyer, Zeit online, 29.9.21, im Internet (hinter Paywall).

Abb.: Dominic Wilcox: World’s First Art Exhibition for Dogs, 19th-20th August 2016, Ugly Duck Gallery, London, im Internet.

03/22

05/03/2022 (14:27) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Speaking

“If I don’t say them, it will put me in an even more dangerous situation. But if I say them, change may occur. To speak is better than not to speak: if everyone spoke, this society would have transformed itself long ago. Change happens when every citizen says what he or she wants to say; one person’s silence exposes another to danger.”

aus: Ai Weiwei: 1000 years of joys and sorrows. London: Bodley Head 2021, S.264.

Abb.: Ai Weiwei: Remembering. She lived happily in this world for seven years. 2009, im Internet.

03/22

04/03/2022 (2:55) Schlagworte: EN,Lesebuch ::

Art 2

“Dumpsters are everywhere in the streets of New York City, and you could probably find a number of masterpieces in them. I must have moved about ten times during my years in New York, and artworks were the first things I threw away. I had pride in these works, of course, but once I’d finished them, my friendship with them had ended. I didn’t owe them, and they didn’t owe me, and I would have been more embarrassed to see them again than I would have been to run into an old lover. If they were not going to be hanging on someone else’s wall, they didn’t count as anything at all. …

[Back in Beijing] young artists often came to me for counseling and like a traditional Chinese physician dispensing cures, I would … offer a prescription …: they should make no effort to please other people and just concentrate on preserving their vital energy. To conventional culture, I said, art should be a nail in the eye, a spike in the flesh, gravel in the shoe: the reason why art cannot be ignored is that it destabilizes what seems settled and secure. Change is an objective fact, and whether you like it or not, only by confronting challenges can you be sure you have enough kindling to keep the fire in your spirit burning. Don’t try to dream other people’s dreams. …

Art should be recognized, yes, but not in the form of expensive collectibles to be deposited in MoMA storage to molder – that’s simply a waste. … To me, art is a dynamic relationship with reality, with our way of life and attitude to life, and it should not be placed in a separate compartment. I have no interest in art that tries to keep itself distinct from reality.”

aus: Ai Weiwei: 1000 years of joys and sorrows. London: Bodley Head 2021, S.189, 201 und 234.

Abb.: Ai Weiwei: Hanging Man, 1985, im Internet.

03/22

04/03/2022 (0:14) Schlagworte: EN,Lesebuch ::