Ideengeschichte
“Die Ideengeschichte ist ein reiches, aber zugleich auch relativ unpräzises Forschungsgebiet, dem die Fachleute der exakteren Wissenschaften mit verständlichem Argwohn begegnen, aber dafür bietet sie viel Überraschendes und Lohnendes. Dazu gehört die Entdeckung, daß manche der vertrautesten Werte unserer eigenen Kultur jünger sind, als man zunächst vielleicht annimmt.
Integrität und Aufrichtigkeit etwa gehörten nicht zu den Eigenschaften, die man in der antiken und mittelalterlichen Welt bewundert hat, ja sie wurden kaum erwähnt, denn die objektive Wahrheit wurde am höchsten geschätzt und daß alles seine richtige Ordnung hatte, gleichgültig, wie man es dahin brachte.
Die Auffassung, daß Vielfalt erstrebenswert, Einförmigkeit hingegen monoton sei, trostlos und fade, eine Fessel des frei schweifenden menschlichen Geistes – ‘so cimmerisch, so totenhaft’, wie Goethe über Holbachs Systeme de la nature sagte -, steht in scharfem Kontrast zu der traditionellen Überzeugung, daß es nur eine Wahrheit gibt und der Irrtum viele Gestalten hat, eine Ansicht, die kaum vor Ende des siebzehnten Jahrhunderts – keinesfalls früher – in Frage gestellt wurde.
Der Begriff der Toleranz, nicht als nützliches Mittel, um zerstörerischen Streit zu vermeiden, sondern als ein Wert an sich, die Begriffe von Freiheit und Menschenrechten, wie sie heute diskutiert werden, oder das Genie als Verachtung der Regeln durch einen uneingeschränkten Willen, der auf jeder Ebene die Fesseln des Verstandes abstreift, alle diese Begriffe gehören zu einem großen Umbruch im abendländischen Denken und Fühlen im achtzehnten Jahrhundert, dessen Konsequenzen heutzutage in verschiedenen Gegenrevolutionen in allen Lebensbereichen unübersehbar sind.”
Isaiah Berlin: Der Nationalismus. Seine frühere Vernachlässigung und gegenwärtige Macht. Frankfurt(Main): Hain 1990, S.37/38.