Individualismus 1
(NL)
“Wir glauben heute gerne, daß wir als Individuen einzigartig und untereinander äußerst verschieden seien. Wir wollen nicht von wachsender Standardisierung hören, erreicht durch schleichende, anhaltende und tiefgreifende Prozesse von Sozialisierung und Beeinflussung.
Individualismus, der Glaube, daß wir selber frei wählen könnten und dabei auch noch originell seien, ist Teil unseres heutigen Selbstbildes. … [Das Beispiel Mc Donald’s steht] für unsere eigene Standardisierung, die überdies noch über Appelle an unseren eigenen Geschmack und Wahlfreiheit erfolgt. Das ist der von Werbung und Marketing gekaperte Traum individueller Freiheit.
Die Behauptung, daß Individualisierung den schwindenden Einfluß von Weltanschauungen, Kirchen, Milieus und Verbänden erkläre, ist nicht nur falsch, sondern auch verschleiernd und lähmend. … Die Rolle von Glaubensgemeinschaften und Sozialen Bewegungen ist zurückgegangen, die von Schulen und Massenmedien gewachsen. … Die Zweiteilung der Massenmedien [in solche für Gebildete und solche für Ungebildete, Anm. MW] bietet verschiedene Geschmackskulturen und Identitäten an. …
Das utopische Denken, das das Ende der Kontrolle des Menschen über den Menschen in Aussicht stellt, entpuppt sich … immer als Handlanger einer totalen und brutalen Kontrolle. Der heutige Individualismus fördert derartige Utopien und steht deshalb echter Demokratisierung im Weg.”
aus: Marc Elchardus: De dramademocratie. Tielt: Lannoo 2002, S.51-54, Übersetzung von mir.
Abb.: Rowland Wilson, The New Yorker, 15.9.62.