Blasphemie
“‘Du sollst keine andere Jeans haben neben mir’ … – Nicht der Werbeslogan, der das erste Gebot benutzt, ist Blasphemie, sondern alle Reklame. Jeder Versuch, meine Lebensinteressen zu richten auf Haarspray, Katzenfutter und Ibizareisen, ist eine Attacke auf den, nach dessen Bild ich geschaffen bin.
‘Consumismo‘ bedeutet: meine Augen werden unaufhörlich beleidigt, meine Ohren verstopft, meine Hände ihrer Kreativität beraubt. … Wenn alles sich im Haben ausdrückt und mißt, bleibt keine Zeit, keine Kraft, keine Sprache für das Miteinandersein. …
Nicht mehr die Ware, sondern das Verkaufsgeschehen selber steht im Mittelpunkt der Werbung, es wird lustvoll besetzt. Immer unverständlicher wird dabei jenes Hauptmoment, mit dessen Hilfe die religiöse Tradition das Glück zu beschreiben versuchte, als Erfahrung von Gnade. ..
Gnade ist ein Konzept, das die Tiefe unseres möglichen Glücks beschreibt. … Wenn ich eingewilligt habe in das große Ja und eingeübt werde in den Kampf gegen den Zynismus, dann mache ich eine Erfahrung, die allem wirklichen Glück zugrunde liegt … Ich bemerke, daß es nicht meine Leistung war, die mich in diesen Zustand gebracht hat … Jedes wirkliche Ja ist antwortend, ist responsiv, und dieser responsive Charakter gehört zur Erfahrung von Glück überhaupt. Glück ist … Integration in das Spiel von Nehmen und Geben und nicht bloßes Nehmen, Bekommen, Sich-Aneignen oder reines Handeln, Machen oder Geben. Es ist Gnade, und je mehr Gnade in einem Glück erfahren wird, desto tiefer ist es. …”
aus: Dorothee Sölle: “Du sollst keine andere Jeans haben neben mir”. In: Jürgen Habermas: Stichworte zur “Geistigen Situation der Zeit“. 2. Bd., Frankfurt (Main): Suhrkamp 1979, S.549-552.
Abb.: ?, ähnlich: Brandalism, 2017, im Internet.
05/19