MALTE WOYDT

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Jüdische Reaktionen

“Die Einstellung vieler Juden zum Antisemitismus kann mit der Haltung der Abstinenzlervereine zum Alkoholismus verglichen werden: Man müsse nur für eine Unterbrechung des Nachschubs sorgen, dann werden die Trinker bzw. die Antisemiten ‘trockengelegt’; eine naivere Vorstellung über die Natur von Sucht-Verhalten und die vielfältigen Möglichkeiten, es zu befriedigen, läßt sich kaum denken. Der Trinker, um die Möglichkeit eines ordentlichen Einkaufs gebracht, wird auf den Schwarzen Markt ausweichen oder sich seinen Fusel selber brauen. Der Antisemit, der zur Entfaltung seiner Obsessionen auf echte Juden nicht angewiesen ist (‘Wer Jude ist, bestimme ich!’ sagte Goebbels), braucht auch keine echten Argumente, die Klamotte von der jüdischen Weltverschwörung, eine alte Ritualmordgeschichte oder sonst irgendein Blödsinn, an dessen Widerlegung die Aufklärer seit Jahrhunderten arbeiten, tut’s zur Not auch.

Juden unterliegen dem Mißverständnis, daß sie sich keine Blöße geben (bzw. zugeben) dürfen, um die antisemitische Aggression nicht noch weiter anzuheizen, daß sie von den Antisemiten verschont werden, wenn sie sich als wertvolle, ja unentbehrliche Träger von Kultur und Zivilisation präsentieren. … Deswegen werden dauernd die jüdischen Nobelpreisträger, Denker, Forscher, Erfinder, Künstler und Wohltäter aufgezählt, deswegen wird bis zum Erbrechen der ‘jüdische Beitrag zur deutschen Kultur’ vorgeführt, als würde sich das Existenzrecht der Juden von der Anzahl der von jüdischen Bastlern beim Patentamt eingereichten Erfindungen herleiten. Juden wollen ums Verrecken gute Menschen sein … Statt darauf hinzuweisen, daß nach 2000 Jahren fruchtlosen Pazifismus, der sie vor keiner Katastrophe bewahrt hat, die Juden das Recht haben, genauso die Sau rauszulassen, wie es alle Völker schon immer getan haben, ohne dabei an Gewissensbissen zu leiden, meinen viele, wenn sie nur fest genug zusammenhalten, werden sie die Antisemiten dadurch beeindrucken, vielleicht sogar einschüchtern könen. …

Den meisten Juden in Deutschland ist es schrecklich peinlich, daß die Frankfurter Unterwelt stark verjudet ist, dies, meinen sie, fördere den Antisemitismus. Soviel ich weiß, gelten auch in der Unterwelt die Gesetze des freien Marktes: der Stärkere setzt sich durch. Mir sind die Unterwelt-Typen auch zuwider, aber ich bin sehr für das Recht der Juden, sich in diesem Bereich der Wirtschaft betätigen zu können …

Die größte Leistung des Antisemitismus liegt nicht in der Dämonisierng der Juden, sondern in dem Umstand, daß Juden selbst meinen, sich dafür, daß sie Juden sind, rechtfertigen zu müssen. …

Die einen wollen gute Juden sein und dies ist, nach der Vernichtung der jüdischen Kultur in Europa, nur möglich über eine Identifikation mit Israel; die anderen gute linke Genossen und Freunde aller Unterdrückten und Entrechteten. Sie müssen sich den Zugang zum fortschrittlichen Lager (das sich nicht zufällig so nennt: Lager) mit ideologischer Kapo-Arbeit erkaufen, ob sie nun Khomeini und Gaddafi preisen oder Begin als Nazi entlarven, wie es die jeweils korrekte Linie verlangt.

Henrik M. Broder: Das richtige Stück für das falsche Publikum. In: Joshua Sobol: Ghetto, Schauspiel in drei Akten. Hg. von Harro Schweizer. Berlin: Quadriga-Verlag Severin 1984, S.217-223.

08/10/2007 (11:21) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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