Ökos
“… Stell dir vor, du trittst eines Morgens auf die Straße, und alle sehen aus wie deine Eltern. Alle tragen die gleichen Jeans wie deine Eltern und die gleichen Vollbärte, alle essen die gleiche Vollwertkost, fahren die gleichen Lastenfahrräder, die gleichen VW-Busse und haben sogar die gleichen fucking Fjällräven-Rucksäcke dabei. … Dazu wollen alle plötzlich selbstbestimmt arbeiten und hängen mittags im Café und abends mit einer Flasche Bier auf den Bordsteinkanten rum. Alle!
Das ist der schräge Albtraum, in dem ich mich gerade wiederfinde.
Es sind nicht alle so, komm mal raus aus deiner linksgrün versifften Blase!, hör ich da rufen. Und ihr habt recht, ich lebe in einer Blase, und das schon lange: Kindheit in dieser Wohngemeinschaft, Jugend in den unzähligen linksalternativen Kulturzentren in Bremen, ab Mitte der Neunziger habe ich dann das Epizentrum dieser Blase als Wohnort gewählt, Berlin-Kreuzberg. Da lebe ich bis heute. Problem nur: Ich finde den Ausgang nicht mehr, so sehr hat sich diese Blase aufgebläht. Der grün-individualistisch-hedonistische Lebensstil scheint eine immense Sogwirkung zu haben. …
Aber wieso find ich’s nicht lustig? Was brodelt da in mir, wenn ich beobachte, wie eine Mutter im Berliner Graefekiez oder in Hamburg-Ottensen, eine Mutter mit Birkenstocks, ihrem Kind das Dinkelbrötchen in den Kinderwagen reicht? …
Vielleicht ärgert mich, dass die Versprechen meiner Kindheit gebrochen wurden. Damals, als meine Eltern jung waren, und neulich, als ich jung war, durften noch alle mitmachen, die Lust dazu hatten. In den Wohngemeinschaften meiner Eltern gingen die unterschiedlichsten Leute ein und aus. Es galt die stille Übereinkunft: Solange du dich von deinen Nazi-Eltern distanzierst, solange du die richtigen Jeans trägst und den richtigen Parka, solange du die richtige Musik hörst und solange du die richtigen drei, vier Bücher im Regal stehen hast, darfst du dabei sein. …
Und das ist der entscheidende Unterschied zu damals: Das Versprechen “Alle dürfen mitmachen” gilt nicht mehr. Die Birkenstocks von der Frau mit dem Kinderwagen und dem Dinkelbrötchen sind nur ein Paar von vielleicht dreißig Paar Schuhen, die sie zu Hause hat, und ihr Kinderwagen kostet so viel wie das gebrauchte WG-Auto meiner Eltern. Früher wurden wir Kinder in selbst gestrickte Pullover und billige Gummistiefel gesteckt. Heute tragen die Kleinkinder in den linksalternativen Stadtteilen dieser Republik Outdoorklamotten, Wollwalk-Overalls und skandinavische Schuhe im Wert eines Hartz-IV-Monatssatzes. Damals fuhr man Bulli, weil acht Personen mitfahren konnten, und man wohnte mit fünf Erwachsenen und vier Kindern in einer Sechszimmerwohnung. Heute wohnt in der gleichen Wohnung eine Kleinfamilie, und der Multivan-Bulli ist teurer als ein Mercedes S-Klasse. Damals durfte jeder in Kreuzberg wohnen, der keine Angst vor Klo auf dem Gang, Ofenheizung und Türken hatte. Heute dürfen nur noch diejenigen in Kreuzberg wohnen, die das Geld dafür haben. …
Ich heule nicht dem Ausverkauf eines Lebensstils hinterher. So was passiert. Was mich allerdings ankotzt, ist, dass er äußerlich nachgeahmt, aber innerlich ausgehöhlt wird. Es ist, als ob die Neo-Kreuzberger sagen: Euren Lifestyle, den finden wir ganz fancy, nur die Sache mit dieser Solidarität, das haben wir noch nie verstanden, das lassen wir mal lieber weg. Die Dinkelmütter von damals haben Kinderläden und freie Schulen gegründet, die Dinkelmütter von heute pirschen sich am Kuchenstand auf dem Schulfest an die Direktorin ran, damit ihr Kind nicht nur auf die beste Schule, sondern auch in die beste Klasse mit der besten Lehrerin kommt. …
Dass der Wind sich dreht, habe ich zum ersten Mal vor ungefähr zwölf Jahren auf einem Kreuzberger Spielplatz bemerkt. Mein damals einjähriges Kind stritt sich mit einem anderen Kind um ein Sandkasten-Förmchen. Die Reflexe meiner eigenen Erziehung funktionierten einwandfrei, doch ehe ich sagen konnte: “Guckt mal, ihr könnt doch zusammen damit …”, rief die andere Mutter (die genauso aussah wie ich) ihrem Kind schon zu: “Jetzt lass dir doch nicht immer jedes Spielzeug abnehmen! Setz dich mal durch!” Ich blieb bestimmt zehn Minuten mauloffen im Sand stehen. Dass Durchsetzungsvermögen der neue Kreuzberger Soft Skill ist, wurde mir in den nächsten Jahren klar …
Mit grün im Sinne von umweltverträglich hat das, was wir in Kreuzberg veranstalten, ohnehin schon länger nichts mehr zu tun. Während Bine und ihre Freundinnen damals Yoga in der Volkshochschule gemacht haben, fliegen Julia und ihre Freundinnen ins Yoga-Retreat nach Thailand. Und was ist an einem VW-Bus eigentlich grüner als an einem SUV? Einfach mal Maße und Spritverbrauch vergleichen, schon bröselt einem das Selbstbild unter den Fingern weg.
Wahrscheinlich hätte ich gar nichts bemerkt von diesen Widersprüchen, wenn die Reichen brav auf ihren Golf- und Tennisplätzen geblieben wären und nicht auf Birkenstocks in meine Blase reingelatscht wären. …
Hab ich behauptet, ich wisse nicht, wo der Ausgang aus der Blase sei? Vielleicht weiß ich’s doch. Vielleicht bau ich mir eine Holzhütte auf dem Golfplatz, da ist ja keiner mehr. …”
aus: Tina Thoene: Früher war mehr Öko, ZEIT-Online, 21.8.19, im Internet.
Abb.: Britto Arts Trust, Dhaka, Bangladesh: Rassad, lokaler Basar und Supershop, Detail, Docuzmenta15, 2022.
08/19