MALTE WOYDT

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Ossis

“Schon zu DDR-Zeiten begann die Spaltung der Bevölkerung. Auf der einen Seite jene, die damals mitliefen oder auch nur ein gutes Leben suchten. Die sich weitgehend fügten in die Bedingungen. Nennen wir sie: die Fügsamen.

Und dann gab es jene, die eben nicht mitmachten, die sich nicht abfinden wollten, und sei es nur gedanklich. Die die Jugendweihe verweigerten oder das Pionierhalstuch. Sagen wir: die Widerständigen.

Die Widerständigen verachteten nicht nur den Staat – sie waren auch enttäuscht von jenen, die sich fügten. … 1989 waren viele dieser Widerständigen die wichtigsten Protagonisten der Revolution. … Dass der Aufstieg in eine Nachwende-Elite zu wenigen gelang, hat mit der Verachtung zu tun, die viele Bürgerrechtler für die Ostdeutschen empfanden … Man wird nicht zur Elite eines Volkes, mit dem man nichts anfangen kann. …

Zu allem Überfluss entstand nach 1989 ein weiterer Riss. Dieses Mal teilte er die Gesellschaft in Nachwende-Gewinner und -Verlierer. … Plötzlich zerfiel die Ost-Gesellschaft – der bis 1989 eingeredet wurde, dass alle gleich seien – in jene, die die neuen Chancen ergriffen, die ein Unternehmen gründeten, … die Aktiven. Und auf der anderen Seite standen … die Passiven. … Unternehmer aus den neuen Ländern gerieren sich kapitalistischer als westdeutsche … Die ostdeutschen Firmenchefs stimmen neoliberalen Aussagen häufiger zu, zahlen oft schlechte Löhne – und reagieren allergisch auf Versuche, Betriebsräte zu gründen. …

Selbst ostdeutsche Bundestagsabgeordnete, deren Aufgabe es wäre, die Interessen der Bürger ihres Wahlkreises zu vertreten, haben sich rasch von ihrer Heimat emanzipiert. … Bis vor wenigen Jahren war es geradezu selbstverständlich, dass Politiker aus Dresden oder Rostock, die es in der Bundespolitik zu Einfluss gebracht haben, nicht über ihre Herkunft sprachen. … Heute stellen wir fest, dass Ostdeutsche in den Führungspositionen des Landes krass unterrepräsentiert sind. … könnte man nicht auch auf die Idee kommen, dass Ostdeutsche es versäumt haben, belastbare eigene Netzwerke zu schaffen?…

Dabei ist es in unserem auf Repräsentation basierenden politischen System notwendig, sich als Lobbyist der eigenen Gruppe zu verstehen. Demokratie lebt vom Bestreben, sich mit verantwortlich zu fühlen für diejenigen, zu denen man gehört. Wenn der Osten aber mit einer Elite lebt, die insgeheim herabblickt auf die breite Masse, dann kann es dauerhaft ein Problem mit der Demokratie geben.

Dieses Problem kann auch kein Westdeutscher lösen. Das muss der Osten schon selbst angehen. …”

aus: Anne Hähnig: Der Osten braucht eine neue Elite! ZEIT-Online, 1.6.20, im Internet, etwas umgestellt.

06/20

01/06/2020 (10:39) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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