Nationalschriftsteller
“… Da haben wir also eine neue Idee: daß jedes Land durch ein Buch repräsentiert zu sein habe oder jedenfalls durch einen Autor, der Autor vieler Bücher sein kann.
Merkwürdig ist nur – und ich glaube, daß dies bisher nicht bemerkt wurde -, daß die Länder Individuen ausgewählt haben, die ihnen nicht besonders ähnlich sind. So sollte man meinen, England hätte Dr. Johnson als Vertreter ausgesucht; aber nein, England hat Shakespeare gewählt, und Shakespeare ist gewissermaßen der unenglischste aller englischen Schriftsteller. Typisch für England ist das ‘understatement’, ist, weniger zu sagen, als die Dinge eigentlich ausmachen. Im Gegensatz dazu neigte Shakespeare zur Hyperbel in der Metapher, und es dürfte uns nicht überraschen, wenn Shakespeare zum Beispiel Italiener oder Jude gewesen wäre.
Ein anderer Fall liegt in Deutschland vor; ein bewundernswertes Land, das so leicht zum Fanatismus neigt, wählt ausgerechnet einen toleranten Mann, der überhaupt nicht fanatisch ist und dem der Begriff des Vaterlandes nicht sonderlich viel bedeutet; es wählt Goethe. Deutschland wird durch Goethe repräsentiert.
In Frankreich wurde kein Autor ausgewählt, aber man neigt zu Hugo. Natürlich hege ich große Bewunderung für ihn, aber Hugo ist kein typischer Franzose. Er ist ein Fremder in Frankreich; Hugo mit seinen großen Gebärden und ausufernden Metaphern ist nicht typisch für Frankreich.
Ein anderer, noch weit merkwürdigerer Fall ist Spanien. Spanien hätte durch Lope, durch Calderón, durch Quevedo vertreten sein können. Aber nein, Spanien wird repräsentiert durch Miguel de Cervantes. Cervantes ist ein Zeitgenosse der Inquisition, aber er ist tolerant, er ist ein Mann, der weder die spanischen Tugenden noch die spanischen Laster teilt.
Es ist, als dächte jedes Land, es müsse durch jemanden vertreten sein, der von ihm verschieden ist; durch einen, der ein wenig eine Art Heilmittel oder Gegengift für die Fehler des Landes darstellt. …”
José Luis Borges: Das Buch. In: ders.: Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1985, S.10/11