Paradies
“Das Paradies der Muslime verspricht den Gläubigen, was die Wirklichkeit ihnen verweigert: grüne Auen statt der Sandwüste; schöne Huris statt unerreichbarer Frauen und Homosexualität aus Not; reiche Speisen, die sich in Luft auflösen, statt mit Ruhr oder Cholera zu drohen. Dieses Paradies folgt … einer stringenten Logik.
Das Christentum kennt zwei Paradiese, die seltsam miteinander konkurrieren. Der Garten Eden entspringt einer orientalischen Phantasie. Er ist sinnlich und wird anschaulich beschrieben: üppige Vegetation, Versöhnung mit der Natur, die Menschen sind nackt, sie arbeiten nicht. Dagegen liegt über dem himmlischen Paradies der reinen Lehre ein Bilderverbot, das die Phantasie lähmt und bloß ewige Langeweile verheißt. Die Angst vor der Hölle war in Europa immer stärker als die Lust auf eine solche Belohnung. …
Mich hat früher der Garten Eden skandalisiert. Als Kind schien es mir, als verdiene ein Paradies seinen Namen nicht, auf dem Schilder aufgestellt seien wie … ‘Äpfel essen verboten’. Heute denke ich anders darüber; denn mit dem Verbot war den Bewohnern des Gartens die Freiheit und die Zeit geschenkt – die Zeit vorher und die Zeit danach. Der Apfel war der größte Genuß, den der Garten zu bieten hatte. Er gab die Falltür, den Notausgang frei, versprach den Eros und die Intelligenz. Ohne die verbotene Frucht wäre dieser Ort ein Gefängnis gewesen. Von einem Paradies ist zu fordern, daß man es verlassen kann, wenn man genug davon hat. Das gilt auch für politische Paradiese, wie sie der Kommunismus versprach.”
aus: Hans-Magnus Enzensberger: Tumult. Berlin: Suhrkamp 2014, S.265/266.
Abb.: Sugio: Threesome, 2018, indoartnow, im Internet.
05/21
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