Opfergesellschaft
“Die ‘Therapiegesellschaft’ entwickelt … schon gar keinen Begriff eines Subjektes mehr, dem verantwortliches Handeln abverlangt werden könnte. Wer Opfer der Verhältnisse, des Patriarchats, des Kapitalismus, der frühkindlichen Erziehung ist, der erwartet bei der Gerichtsverhandlung Freispruch. Eine machmal gewalttätige Enteignung hat sich da durchgesetzt, von Psychoboom und Feminismus verstärkt: Was immer wir tun, wer immer wir sind – eigentlich ist das Subjekt die Gesellschaft, die Erziehung, das System, die anderen. In den Orgasmusschwierigkeiten gleichsam das Versagen der Gesellschaft zu erkennen und in diesem Sinn das Private für politisch zu erklären, ist seither ein folgenreicher Gemeinplatz einer politischen Kultur geworden, der die Vorstellung persönlicher Verantwortung abhanden gekommen ist.”
Cora Stephan: Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte. Reinbek 1993: 115/116