Privatheit
“Das man ‘von nichts gewußt’ habe, ließen wir nur als Schutzbehauptung gelten, ebenso die Behauptung, es habe auch damals ein ‘Privatleben‘ gegeben. An diesen Vorhalt erinnere ich mich noch gut, er wurde von den Älteren mit besonderer Emphase vorgetragen. Was war damit gemeint? … Wir … glaubten, nicht immer zu Unrecht, darin eine Rechtfertigungsformel zu erkennen. … Diese gleichsam schuldbeladene Vorstellung von ‘Privatheit’ , der unsere Eltern frönten, die Abschottung gegen den Nächsten, den Nachbarn, wie wir sie insbesondere in der Weihnachtszeit in den 50er Jahren selbst erleben durften, war nicht unsere. … War nicht … der Rückzug ins Private ein aggressiver Akt, da er soviel Schreckliches ungerührt hatte geschehen lassen? Der Gedanke, daß das Privatisieren der ‘Ohne-Michels’ der Nachkriegszeit auch aufgefaßt werden könnte, als die Abkehr von der totalitären Politisierung der Bürger unter dem Nationalsozialismus, kam uns gar nicht erst. Die engagierte Jugend der 60er Jahre zog die Vorstellung des allseits politisierten Individuums vor, das sich, wenn “Faschismus” drohte, nicht ins Private zurückzog, sondern auf die Straße ging. … Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestimmte die Vorstellung vom engagierten Bürger, dem keine Freizeit vom Engagement mehr zugebilligt wurde. Daß der private Raum, auch, ja unbedingt ein politischer sei – ‘das Private ist politisch’ – wurde zur die Szenen der 70er Jahre bestimmenden Sentenz, deren terroristischer Gehalt überdeckt wurde von der noch viel größeren Angst: so wie die Eltern den Widerstand gegen die Katastrophe zu verpassen.”
Cora Stephan: Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte. Reinbek 1993: 103-105
Cora Stephan hat eine eigene Homepage mit vielen Artikeln: www.cora-stephan.de