Zehn Gebote
“Was denkt man sich eigentlich dabei, wenn der in der Welt der Schulbücher behütete Schüler die Zehn Gebote auswendig lernen soll. … Bald … hatte ich Schwierigkeiten mit dem ‘ehren von Vater und Mutter’. Das war doch unmöglich so unbesehen hinzunehmen. Natürlich konnte man es bei meinen Eltern, die mir gegenüber meistens recht hatten, aber ohne Kritik ehren, das ging mir gar nicht ein …
Nun, wenn ich den Vers mit dem Ehebrechen heruntersagte, dachte ich nicht viel dabei. Töten und Stehlen war schlecht, und ich wußte ja, daß ich das nicht tun sollte, aber wenn man nur die Schwestern bestahl, war es nicht so schlimm. Die Sache mit dem Nicht-Gelüsten-Lassen nach dem Weibe deines Nächsten war schon anders, denn das ‘Wort ‘Gelüsten’ haftete plötzlich, und es war schon wert, darüber nachzudenken., daß man nicht nur auf Marmelade und Kartoffelflinsen, sondern auch auf ein Weib Lust haben konnte. Andererseits konnte man sich unter Weib nicht so recht etwas vorstellen. Meine Mutter und Tanten waren Damen, vielleicht Frauen, meine Schwestern waren Mädchen. Die Fischweiber vom Markt konnte man kaum mit der Lust in Verbindung bringen, aber es gab ja auch Bilder in den Zeitschriften, die unten im Notenpult lagen; vielleicht waren das Weiber. Es gab viele Überlegungen, und der Fall wurde erst etwas später geklärt.
Richtige Schwierigkeiten hatte ich aber bald mit dem ‘eifernden Gott, der da ahndet die Schuld der Väter an den Kindern‘ … Mich befriedigte … bald die Feststellung nicht mehr, daß es eine Tatsache ist, daß die Kinder und Enkelkinder für die Untaten der Eltern büßen müssen. Ich sah das ein, aber ich war wohl damals zu sehr Individualist, als daß ich einen Gott akzeptieren konnte, der Kollektivstrafen verhängt. Das kam mir zu heidnisch vor. Der Fluch, der auf Ödipus’ Geschlecht ruht, ist zwar dramatisch, aber für die Gegenwart graute es mir bei dem Gedanken, von den Taten meiner Großeltern abhängig zu sein …”
aus: Max Fürst: Gefilte Fisch. Eine Jugend in Königsberg. München: dtv 1976 (1973), S.129/130.
Abb.: Udo Lindenberg: Zehn Gebote, im Internet.
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