MALTE WOYDT

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Zynismus

“Der moderne Zyniker ist ein integrierter Asozialer, der es an unterschwelliger Illusionslosigkeit mit jedem Hippie aufnimmt … Eine gewisse schicke Bitterkeit untermalt sein Handeln. … Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. … Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexif gefedert. …

Ohne Sarkasmus kann es kein gesundes Verhältnis heutiger Aufklärung zu ihrer eigenen Geschichte geben. Wir haben nur die Wahl zwischen einem den Anfängen ‘loyal’ verpflichteten Pessimismus, der an Dekadenz erinert und einer heiteren Respektlosigkeit bei der Fortsetzung der ursprünglichen Aufgaben. …

Nach den trotzigen Hoffnungen macht sich die Schwunglosigkeit der Egoismen breit … Bei zweitausend Mark netto im Monat beginnt leise die Gegenaufklärung; sie setzt darauf, daß jeder, der etwas zu verlieren hat, mit seinem unglücklichen Bewußtsein privat zurechtkommt oder es mit ‘Engagement’ überbaut. … Das neuzynische Arrangement mit dem Gegebenen hat etwas Klägliches …

Wo sich die Aufklärung ihr Gelingen verspricht, hat sie die Struktur eines mutig-spontanen Sich-denken-und-machen-Lassens, das darauf vertraut, daß unser Erkennen und Tun nicht blind subjektiv an allen Tendenzen des Wirklichen vorbeistürzt, sondern an den Strebigkeiten und Kräften der Welt kreativ und sachgehorsam anknüpft, um schließlich im Sinne vernünftiger Zwecke ‘mehr daraus zu machen’.

Hieran mag angesichts gewesener und drohender Weltkatastrophen das heutige geschichtsfrustrierte Lebensgefühl nicht mehr recht glauben. Oft zeigt es sich äußerst unmutig, sich ‘des eigenen Verstandes zu bedienen’. Da sie ihren Vernunft-Mut weitgehend verloren haben, sind die Erben der Aufklärung heute nervös, zweiflerisch und forciert-illusionslos auf dem Weg in den globalen Zynismus. … Das zynische Bewußtsein zieht die Summe aus den ‘schlechten Erfahrungen’ aller Zeiten und läßt nur noch das aussichtslose Einerlei der harten Fakten gelten. …

[Aber:] Schlechte Erfahrungen weichen zurück vor den neuen Gelegenheiten. Keine Geschichte macht dich alt. Die Lieblosigkeiten von gestern zwingen zu nichts. Im Licht solcher Geistesgegenwart ist der Bann der Wiederholungen gebrochen. Jede bewußte Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene und wird zur ersten einer anderen Geschichte.”

aus: Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt(Main): Suhrkamp 1983, S. 36-41 und 950-953.

05/10/2007 (0:15) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

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