Widerstandsrausch
“Ein Mann ermordet seine Familie. Er erschießt seine drei Kinder, zehn, acht und vier Jahre alt. Und seine Frau. Schließlich tötet er sich selbst. Der Abschiedsbrief des Mannes deutet darauf hin, dass er das Impfzertifikat seiner Frau gefälscht hatte. Weil die Tat aufflog, hatte das Paar offenbar Angst vor Verhaftung und fürchtete, man könnte ihnen die Kinder wegnehmen …
Sechs Tote in wenigen Wochen [sind] ein eindeutiges Zeichen … Auf die Frage, wie diese Taten zusammenhängen mit der Radikalisierung von ‘Querdenkern‘ und Konsorten, lautet eine wahrscheinliche Antwort: Telegram. Sowohl der Tankstellenmörder wie auch der Mann, der seine Familie tötete, hatten Telegram-Accounts. …
Telegram ist strukturell besonders gut geeignet für Radikalisierungen aller Art. … Telegram verbindet die Intimität und Sofortheit von Messengern mit der Viralität und dem News-Gefühl von Social Networks. …
Als Ausgangspunkt der massenhaften Radikalisierung dienen Kanäle und Gruppen bei Telegram, die … nicht nur mit einem Klick abonnierbar [sind], sondern … vor allem auch untereinander leicht verlinkt werden [können]. Dadurch können neue Gruppen und Kanäle in wenigen Stunden Hunderttausende Abonnenten anlocken. … Gleichzeitig kann man anhand der Verlinkungen leicht von Gruppe zu Gruppe springen, jeder Klick führt dann tiefer in die Vernetzung der Communities untereinander hinein – der Beginn des sogenannten Rabbit-Hole-Effekts, mit dem man sich im weit verzweigten Höhlenbau der sozialen Medien verlieren kann. …
Telegram ist das Darknet des kleinen Mannes. … Zuerst fällt die große und noch zunehmende Nähe zu Rechtsextremen auf. … Die Rechtsoffenheit basiert bei den eher bürgerlich–esoterischen Teilen der Bewegung auf einer so schlichten wie gefährlichen Sichtweise: Die ‘Coronadiktatur’ sei derart bedrohlich, dass man sich ohne Scheu mit allen verbünden müsse, die dagegen kämpfen. Rechtsextreme nutzen diese spektakuläre Naivität aus und haben so die ursprünglich vielschichtige Bewegung mit einer radikal rechten Schlagseite versehen. …
Weil das Teilen so einfach ist, ergibt sich in vielen Kanälen und Gruppen ein regelrechter Hagelsturm an Verschwörungsinhalten, die zu einem Amalgam der ständig drohenden, kaum mehr überschaubaren Weltuntergänge werden, wie so oft mit antisemitischer Grundierung … Die anhaltenden Maximalbedrohungen von allen Seiten lösen eine Dauererregung aus, die zur Sucht werden kann, aber vor allem die Funktion hat, sich als Opfer zu fühlen. Die Opferpose ermöglicht Radikalisierten, Gewalt anzuwenden, die sie als Widerstand und Notwehr begreifen. …
Bereits ein halbes Dutzend Abonnements und Gruppenmitgliedschaften in einschlägigen Zirkeln reichen bei Telegram völlig aus, um sich in einen dauerhaften Alarm- und Angstzustand hineinzusteigern. Es ist gut erforscht, was dann geschieht – Notsituationen lassen ein evolutionäres Programm im Körper ablaufen, in dem Rationalität und Empathie keine große Rolle mehr spielen und stattdessen uralte Überlebensmechanismen aktiviert werden: Flucht- und Kampfreflexe, die Reduktion von Hemmungen und moralischen Erwägungen, die Neigung zum Freund-Feind-Schema und Schwarz-Weiß–Denken. Das Ergebnis ist erschütternd: So lässt sich leicht eine selbstverstärkende Radikalisierung gegen die eingebildete Generalbedrohung durch ungefähr alle anderen erzeugen – ich nenne dieses Phänomen Widerstandsrausch, der Telegram-Amokwahn des Social-Media-Zeitalters. Er wird wohl noch viele weitere Opfer kosten.”
aus: Sascha Lobo: Im Widerstandsrausch, Spiegel-Online, 8.12.21, im Internet.
Abb.: Arman Jamparing Seri: Capital Riot #5, 2014, Detail, indoartnow, im Internet.
12/21
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