Gefühle
“Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie eine hochseriöse Journalistin in einem hochseriösen Programm eines hochseriösen Radiosenders zu einer hochseriösen Sendezeit einem hochseriösen Politiker … [fragt]: ‘Was macht das mit Ihnen?’ …
Politiker … werden für das Preisgeben innerer Zustände weder gewählt noch bezahlt. Sondern dafür, dass sie ihren Job machen. Werden sie als Menschen mit Gefühlsleben befragt, nimmt man sie aus ihrer Verantwortung. Nicht, was etwas mit ihnen macht, sondern was sie selbst machen, ist das, was wir von ihnen wissen wollen sollten. …
Auch an verwandten Trendfragen des Journalismus wie ‘Dürfen wir noch Discount-Ware kaufen?’ oder ‘Müssen wir jetzt alle Flugscham haben?’ lässt sich der gesellschaftliche oder teilgesellschaftliche Trend erkennen, der sich in der ‘Was macht das mit?’-Frage spiegelt: eine zunehmend seelsorgerisch ausgerichtete Betrachtung von Gesellschaft. Die Rede von ‘toxischen Beziehungen’, die Anzahl an neuen Sachbüchern, in denen es um Sinn, Selbstsorge und Seelenheil geht, geben davon Kunde.
Wenn nun seriöse Journalisten die ‘Was macht das mit?-‘Frage stellen, können sie keine seriösen Antworten erwarten.
Es könnte natürlich sein, dass die Frage eine Verzweiflungstat ist, weil Politiker mittlerweile so durchgecoacht sind, dass sie auf so gut wie alle Fragen mit ‘Ach wissen Sie …’ antworten und dann irgendwas erzählen, was keine Antwort auf die Frage ist. …
Es könnte aber auch sein, dass man die Inszenierung der Politik verinnerlicht hat und glaubt, die politischen Probleme (wer bezahlt für was wie viel?) kämen über uns wie die Apokalypse, das Pfingstwunder oder Feenstaub. Und Menschen, die dafür gewählt und bezahlt werden, Politisches zu erkennen, zu entscheiden, zu kontrollieren und zu lösen, würden von ihrem Berufsfeld auch bloß angeweht …”
aus: Doris Akrap: Gefühle statt Handlungen: Wir stellen die falschen Fragen, taz online, 2.1.22, im Internet
Abb.: Samuel Salcedo: Head Sculptures, im Internet.
01/22
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