MALTE WOYDT

HOME:    PRIVATHOME:    LESE- UND NOTIZBUCH

ANGE
BOTE
BEL
GIEN
ÜBER
MICH
FRA
GEN
LESE
BUCH
GALE
RIE
PAM
PHLETE
SCHAER
BEEK
GENEA
LOGIE

Sozialismus 1

“Lieber Eckard,

Sozialismus ist für mich kein Zustand, in den ich irgendwann eintreten könnte wie in ein Zimmer, sondern eine Tätigkeit, die ich alltäglich betreibe. In der kleinen bayerischen Fremdenverkehrsgemeinde, wo wir seit sechs Jahren wohnen, bin sozusagen ich der Sozialismus. … unser SPD-Ortsverein mit seinen gerade 18 Mitgliedern verkörpert in meinem Heimatdorf so gut oder schlecht es eben gehen mag, den Sozialismus. Ich bin der Vorsitzende.

Was wir tun (oder nicht tun, weil wir nicht wollen oder nicht können), ist das, was die 3.000 Seelen vom Sozialismus erfahren. Andere politische Gruppierungen, die sich als “links” verstehen könnten (wie Grüne oder DKP), spielen hier, auf kommunaler Ebene keine Rolle.

Was tun wir nun also, und was tun wir nicht?

Die B19 von Sonthofen nach Oberstdorf führt durch den Ort mittendurch. Wir haben uns stark gemacht für eine Begrenzung der Geschwindigkeit auf 80, fanden die Unterstützung des Bürgermeisters und des ganzen Gemeinderats und konnten doch nicht mehr erreichen, als ein Probejahr mit den 80-Schildern, das nun beendet werden sollte. Neuerliches Hin und Her. Schreiben an die Abgeordneten im Landtag, an die Presse – jetzt ist es soweit, 80 gilt ohne zeitliche Begrenzung.

Seite an Seite mit der CSU, in diesem Fall – eine solche Äußerung wird nach meiner Erfahrung außerhalb Bayerns immer mißverstanden, auch von denen, die sich als gewitzt verstehen. Die meisten Intellektuellen und Linken, die ich treffe, glauben ganz genau zu wissen, wie es in Bayern zugeht. Sie erzählen es mir, meist lachend. Auf die Idee, mich zu fragen, welche Erfahrung ich hier mit der CSU mache, ist noch niemand gekommen. Alle wissen es schon – sie glauben es zu wissen. Die Wirklichkeit, wie ich sie erlebe, ist anders.

… Der Mittelstand ist es, der hier regiert; das ist wörtlich zu verstehen. … Wer alteingesessener Gewerbetreibender ist, der ist katholisch und CSUler und in etlichen Vereinen aktiv. Die besten Leute aus dieser Schicht sitzen zu zwölft im Gemeinderat und bilden die CSU-Fraktion, die vom Bürgermeister, der zugleich CSU-Vorsitzender ist, geleitet wird.

Ihnen gegenüber sitzen wir zwei SPD-Mitglieder, der andere ist Hauptschullehrer und auch, wie ich, zugezogen. Wer nicht alteingesessen ist, und keinen Betrieb geerbt hat, wer also zugezogener Arbeitnehmer, Selbstständiger oder kleiner Beamter ist, der organisiert sich in der Regel als Sozi, ist evangelisch und denkt ‘liberal‘ im fortschrittlichen Sinne.

Wir zwei werden nun von der übermächtigen CSU-Fraktion (nach anfänglichen Scharmützeln mit schwerem Säbel) gut behandelt. In allen Ausschüssen sind wir vertreten. Anträge, die uns wichtig waren, fanden die nötige Unterstützung; allein könnten wir nichts ausrichten.

Am wichtigsten war mir persönlich das Grabdenkmal für drei 1944 an Lungenentzündung verstorbene Fremdarbeiter. Wir hatten hier ein Außenlager des KZ Dachau, es war klein. … neben ‘verschleppten’ [wurden] auch ‘freie‘ Fremdarbeiter beschäftigt. Drei, ein Belgier, ein Pole, ein Ukrainer, lagen unter vernachlässigten Holzkreuzen auf dem ansonsten durchaus wohlhäbig gestalteten Friedhof. Wir setzten durch, daß ihnen ein Grabmal aus drei schönen, auffälligen Granitkreuzen gesetzt wurde. …

Das Verhältnis zu den Gemeinderatskollegen ist gut. Neulich waren wir mal auf Besichtigungsfahrt in München und wurden von der Zentrale einer riesigen Bank bewirtet. Der Gastgeber flocht in einer Laudatio auf uns Ehrenamtliche ganz beiläufig ein, wie sehr doch die politische Bewegung von 1968 gescheitert sei. Nichts sei davon übriggeblieben. Da meldete ich mich und sagte: Doch, ich sei übriggeblieben und auf meinem Weg durch die Institutionen jetzt hier angekommen, in dieser Bank, um ihm zu widersprechen. …

Es hätte peinlich sein können, war’s aber nicht, denn unser Bürgermeister sagte in freundlich-kommunikativem Ton zu dem Mann: Jawohl, die Molsners seien in der Tat so Altachtundsechziger, doch doch, solche gebe es schon noch.

Zu einem großen lärmenden Zusammenstoß zwischen den Fraktionen ist es bisher nicht gekommen. Sollte ein Anlaß solchen Zusammenstoß fordern, werde ich ihm nicht ausweichen. Vor allem will ich aber zeigen und sozusagen vor-leben …, daß man nicht hassen und große Anlässe suchen muß, um Interessen zu vertreten und auch zu realisieren. …

aus: Michael Molsner: Das, was ich alltäglich tue. In: Eckard Spoo (Hg.): Wie weiter? Hamburg 1988.

01/92

08/10/2007 (22:05) Schlagworte: DE,Lesebuch ::

Comments are closed.