Teig
“Wartan Khatisian, armenischer Überlebender des ersten Genozids im 20. Jahrhundert und nun 1943 im besetzten Polen verhaftet, [erzählt] seinen polnisch-jüdischen Leidensgenossen im Todeszug nach Auschwitz …:
‘Und Wartan erzählte ihnen das Märchen von Max und Moritz. Als er geendet hatte, waren die Juden ruhig. Einige lachten sogar. Einer von ihnen sagte: Es ist wirklich nur ein Märchen. Denn so etwas gibt es doch nicht.
– Aus Max und Moritz wurde Brot gemacht, sagte Wartan. Der Bäckermeister hat die beiden einfach zu Teig verarbeitet und dann in den Ofen gesteckt.
– Ein Märchen, sagten die Juden. Nur ein Märchen.
– Natürlich ist es nur ein Märchen, sagte Wartan.
– Und wer hat es geschrieben?
– Ein Deutscher namens Wilhelm Busch.
– Ein deutsches Märchen, sagten die Juden.
– Diesem Wilhelm Busch sollten wir eines Tages ein Denkmal setzen, sagte einer der Juden, denn er hat uns überzeugt, daß so was bei den Deutschen nur im Märchen vorkommt.
– Wahrlich, sagte ein anderer, der wie ein Rabbi aussah. Dieser Wilhelm Busch sollte der Juden liebster deutscher Dichter sein, denn er hat uns die Angst vor den Deutschen genommen. Wartan mußte ihnen nochmals die Geschichte von Max und Moritz erzählen und wie das mit dem Brotbacken war. Und die Juden hörten ihm zu, und als er geendet hatte, fingen sie herzlich zu lachen an. Sie hatten keine Angst mehr. Sie waren beruhigt.
Dann wurden die Türen aufgerissen.’ “
aus: Edgar Hilsenrath: Märchen vom letzten Gedanken. Zitiert bei Marko Martin: “Ein leises Unbehagen in der Magengrube”, Rede zum 80. Geburtstag Edgar Hilsenraths im Schöneberger Rathaus/ Berlin (9. April 2006). Gefunden bei https://www.henryk-broder.de/fremde_federn/
Abb.: Whitwell Middle School, Tennessee, Paperclip Project, 1998-2001, im Internet.
07/06