Theorie
“Theorien werden bewiesen, belegt, verworfen, widerlegt, verboten, aufgestellt, entwickelt, angewandt, benutzt und besessen. Im Vergleich mit früher geschieht heute von all dem nur noch wenig. Das stimmt nicht ganz, es geschieht weniger explizit, und wenn es geschieht, sehr viel weniger systematisch und mit viel geringerer Wirkung. Darin muß ein Fortschritt liegen, dafür muß aber auch ein Preis bezahlt werden.
… Die Dominanz der Theorien ist verschwunden. Sie haben in gewissem Sinne ausgedient, sind transformiert oder aufgegeben worden.
So bleibt es übrig zu fragen, was den Jüngeren die Theorie noch wert ist. Nun, sie würden die Überlegung, ob ein Gedanke als Theorie formulierbar ist, nicht mehr stellen. Eher würden sie sich erkundigen, ob sie schon implementiert ist. Sie würden sich nicht mehr mit der Frage der internen Widerspruchsfreiheit eines Konstrukts beschäftigen, sondern ausprobieren wollen, ob es funktioniert. Sie würden nicht mehr nach Strukturen, sondern nach Perspektiven fragen, nicht mehr analysieren, sondern nach Ideen suchen. Sie würden sich nicht mehr unter einer Theorie organisieren, sondern Nachrichten austauschen, Erkenntnisse wären ihnen ein Resümee, Urteile wären Bewertungen, Argumente wären Meinungen, und Verstehen würden sie als Interesse auffassen. Das sind natürlich Vorurteile, Mutmaßungen und nur Beobachtungen an der Universität, insbesondere in der Informatik, aber wie sonst ließe sich all das erklären, was passiert und gesagt wird.
Die Jungen haben den Bruch mit der Theorie vollzogen, nicht mit der herrschenden Theorie, aber mit der Theorie an sich. Damit gehen sie ein großes Wagnis ein.”
aus: Bernd Mahr: Die Benutzer-Generation, oder der Bruch mit der Theorie. In: Kursbuch 121, September 1995, S.139
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