Zerstörungssucht
“Von der Zerstörungssucht der Masse ist oft die Rede, es ist das erste an ihr, was ins Auge fällt, und es ist unleugbar, daß sie sich überall findet, in den verschiedensten Ländern und Kulturen. … Am liebsten zerstört die Masse Häuser und Gegenstände
Da es sich oft um Zerbrechliches handelt, wie Scheiben, Spiegel, Töpfe, Bilder, Geschirr, neigt man dazu zu glauben, daß es eben diese Zerbrechlichkeit von Gegenständen sei, die die Masse zur Zerstörung anreizt. Es ist nun gewiß richtig, daß der Lärm der Zerstörung, das Zerbrechen von Geschirr, das Klirren von Scheiben zur Freude daran ein Beträchtliches beiträgt: Es sind die kräftigen Lebenslaute eines neuen Geschöpfes, die Schreie eines Neugeborenen. Daß es so leicht ist, sie hervorzurufen, steigert ihre Beliebtheit, alles schreit mit einem und den anderen mit, und das Klirren ist der Beifall der Dinge. Ein besonderes Bedürfnis nach dieser Art von Lärm scheint zu Beginn der Ereignisse zu bestehen, da man sich noch nicht aus allzu vielen zusammensetzt und wenig oder gar nichts geschehen ist. Der Lärm verheißt die Verstärkung, auf die man hofft, und er ist ein glückliches Omen für die kommenden Taten.
Aber es wäre irrig zu glauben, daß die Leichtigkeit des Zerbrechens das Entscheidende daran ist. Man hat sich an Skulpturen aus hartem Stein herangemacht, und nicht geruht, bis sie verstümmelt und unkenntlich waren. … Die Zerstörung von Bildwerken, die etwas vorstellen, ist die Zerstörung der Hierarchie, die man nicht mehr anerkennt. Man vergreift sich an den allgemein etablierten Distanzen, die für alle sichtbar sind und überall gelten. Ihre Härte war der Ausdruck für ihre Permanenz … nun sind sie gestürzt und in Trümmer geschlagen. …
Die Zerstörung gewöhnlicher Art, von der Anfangs die Rede war, ist nichts als ein Angriff auf alle Grenzen. Scheiben und Türen gehören zu den Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen. … In diesen Häusern stecken aber gewöhnlich, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde. Nun ist, was sie abtrennt, zerstört. … Sie können heraus und sich ihr anschließen. Man kann sie holen.
Es ist aber noch mehr daran. Der einzelne Mensch selbst hat das Gefühl, daß er in der Masse die Grenzen seiner Person überschreitet. Er fühlt sich erleichtert, … [er] fühlt … sich frei. … Alles, was Distanzen hält, bedroht ihn und ist ihm unerträglich. …
Die Masse, die Feuer legt, hält sich für unwiderstehlich. … Es ist … das kräftigste Symbol, daß es für die Masse gibt. Nach aller Zerstörung muß es wie sie erlöschen.”
aus: Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt(Main): Fischer 1980 [1960], S.14.-16.