Utilitarismus
Das Menschenbild der neoklassischen Ökonomie, der rationale Nutzenmaximierer, ist ebenso eine Fiktion wie das ältere bildungsbürgerliche Idealbild einer ausschließlich von aufgeklärter Vernunft und dem Interesse am Wahren, Schönen und Guten geleiteten Existenz. … Dennoch wird das utilitaristische Handlungsmodell heute von vielen Menschen als realistisch angesehen, was bezüglich der Macht der Ideologien in unserem ‘postideologischen’ Zeitalter eine Menge aussagt. …
Wir würden uns selber maßlos überfordern, wenn wir in jeder Lage, die von uns ein Handeln erfordert, das Für und Wider aller sich bietenden Alternativen immer wieder neu abwägen müßten, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Um den Alltag überhaupt einigermaßen bestehen zu können, müssen wir unser Handeln routinisieren, … müssen so handeln, wie es unserer Gewohnheit oder der Tradition entspricht.
Und noch etwas kommt hinzu: Nur wenn wir in der Regeln nach dem Maßstab des Üblichen handeln, wind wir auch für die anderen berechenbar, und nur weil wir berechenbar sind, weil wir in aller Regel so handeln, wie es die anderen von uns aufgrund vorgängiger Erfahrung erwarten, sind Zivilität und ein friedliches Zusammenleben unter Menschen überhaupt möglich. …
[In einer] Gesellschaft, in der die Beziehungen der Menschen untereinander vor allem von immer wieder neu anzustellenden utilitaristischen Kalkülen bestimmt werden … kann es kein die Menschen verbindendes Gemeinschaftsgefühl geben, ist die Vorstellung von einer die Individuen umgreifenden Schicksalsgemeinschaft schlicht abwegig. …
[Und] wo die Fähigkeit zur kritischen Selbstbefragung abstirbt, weil uns das Gefühl geschichtlicher Kontinuität oder ganz einfach die Zeit zum nachdenklichen Innehalten abhanden kommt, kann es letztlich auch so etwas wie Verantwortung für die eigenen Taten nicht mehr geben, Steuerung erfolgt dann allenfalls durch die Adhoc-Reaktionen der anderen oder durch die Informationen, die ‘der Markt’ den Marktteilnehmern vermittelt. Man kommt an, hat Erfolg, setzt sich durch – oder eben nicht. Die Frage nach Sinn oder Unsinn, Recht oder Unrecht des eigenen Handelns löst sich auf in die seiner Funktionalität.”
aus: Johano Strasser: Leben oder Überleben. Wider die Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes. Zürich/München: Pendo 2001, S.260-265.
11/07