Putin 2
“Die ganze Weisheit des freien Westens reicht nicht, einen Kremlchef auf dem Kriegspfad zu dechiffrieren. …
Alle politischen Bemühungen, den Konflikt um die Ukraine wenigstens einzuhegen, sind dunkel durchwirkt von einem fundamentalen Nicht-Verstehen dessen, was der Kremlchef bezweckt, warum er tut, was er tut, und wie das Ganze für ihn nutzbringend enden soll. Wobei: Womöglich führt schon das Wort ‘Nutzen‘ in die falsche Richtung, weil es für Wladimir Putin um nichts geht, dem man im westlichen Denken einen messbaren ‘Nutzen’ zuordnen würde.
Misst man … dennoch mit dem politisch-ökonomischen Maß von Kosten und Nutzen, schadet Wladimir Putin sich selbst …: USA und Europäer sind in der Nato so vereint wie lange nicht. Eine eroberte Ukraine ist nicht zu befrieden und erst recht wieder auf dem Weg in den Westen, der zugleich seine Bemühungen verzehnfacht, der Gasabhängigkeit zu entkommen und Russland wirtschaftlich in den Ruin treibt. Das alles stimmt – vorausgesetzt, dass Putin tatsächlich etwas bezweckt, was zu bezwecken der Westen ihm unterstellt. Die Wahrheit ist aber: ob dem so ist, wissen wir nicht, weshalb das Verstörende ja bleibt: Man kann einfach nicht glauben, dass Putin wirklich losschlägt. Aber genauso wenig kann man glauben, dass er einfach kehrtmacht und nicht losschlägt.
Wie sehr Wladimir Putins Forderungen aus dem Rahmen des westlich Denkbaren fallen, ergibt sich, wenn man ein paar Gegenforderungen desselben Kalibers formuliert: sofortige Einführung der Pressefreiheit, eine funktionierende Gewaltenteilung, unabhängige Strafgerichtsbarkeit in Russland – nichts davon kann Putin zugestehen, weil er andernfalls implodiert. … Umgekehrt würde die Nato genauso implodieren, wenn sie die militärischen und politischen Forderungen Putins erfüllt. Sie sind schlicht nicht zumutbar … Aber was, wenn sogar ‘Zumutbarkeit’ zu jenen rationalen Kategorien gehört, die der Kremlchef fortan ignorieren will? Um die nukleare Abschreckung könnte es dann übrigens ebenso geschehen sein. Auch sie ist ein zutiefst rationales Konzept.
… Keiner spricht Putin … Ältere wie junge Kulturtechniken des Westens versagen …, archaisch ist der Geist der Stunde: ein Mann, ein Wille, ein Kommando. …
Die US-Regierung … kommentiert, was sie nicht versteht, laut und live. Damit zieht man augenscheinlich eine Lehre aus dem Jahr 2014: Damals ahnte man wohl auch, was Putin mit der Krim vorhabe, aber schwieg, bis es wirklich passiert war. … Immerhin sichern die USA damit das Narrativ von Schuld und Verantwortlichkeiten ab, doch hilft das naturgemäß erst nach vollzogener Tat. Ob es den Kreml auch von der Tat abzuschrecken hilft, weiß niemand. Q.e.d.
Kurzum: Der Westen scheint nicht mehr die Kraft zu haben, in Sachen Krieg und Frieden Russland Regeln des rationalen Denkens aufzuzwingen. Da geht womöglich etwas zu Ende, und wir alle werden zu Zeugen, ganz gleich, ob es zum Krieg kommt oder nicht. Wer nun insgeheim frohlockt, weil der Westen jahrhundertelang mit dieser Kraft auch viel Böses angestellt hat in der Welt, der möge bedenken: Es gibt kein anderes Konzept, global zu kommunizieren, mithin auch kein Besseres.
Vielleicht sind, was der Himmel verhüten möge, die Chinesen in ein paar Jahren oder Jahrzehnten so weit, ein anderes Konzept in der Welt durchsetzen zu können. Doch in der Zwischenzeit, in diesem sprachverwirrten Zwischenreich, da scheint Wladimir Putin machen zu können, was ihm in den Sinn kommt. Ist dieser Befund kulturpessimistisch? Vielleicht. Der Westen ist jedenfalls dabei, einen Offenbarungseid zu liefern.”
aus: Nikolaus Blome: Niemand spricht Putin, Spiegel Online, 21.02.2022, im Internet.
Abb.: Daria Marchenko: Face of War, 2015, im Internet.
02/22
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