Zwangsdemokraten
“Der ‘Zwangsdemokrat’ führt kein leichtes Leben, muß er doch dauernd taktieren zwischen dem, was er eigentlich will, und dem, was er darüber äußert – ohne sich zu enttarnen. Die Welt um ihn herum, der Staat, die Gesellschaft, sie sehen ganz anders aus, als er sie haben möchte, da er fortwährend auf Schranken stößt, die er nicht ohne weiteres durchbrechen kann. Aber gegen sie anlaufen, mit dem Zepter der Demokratie in der Hand, das kann er. Und das tut er auch, sozusagen fortwährend testend, wie belastbar sie ist und wie weit die Verfassung sich dehnen läßt. …
Es gibt ihn lokal, regional und national, in Kommunalgremien, in Landesparlamenten und im Bundestag – dort verfügt er, auf dem Bildschirm, über sein größtes Publikum und das höchste Maß an Öffentlichkeit und Wirksamkeit. Dort in Bonn, in Regierung und Opposition ist er in vollster Aktion, muß er aber auch am vorsichtigsten sein, steht er da doch seinen kritischsten und scharfäugigsten Gegnern gegenüber. Dennoch verrät er sich, denn verbergen kann der ‘Zwangsdemokrat’ bei aller Taktik sein eigentliches Credo schließlich doch nicht. … Der Mechanismus dieses Typs läuft darauf hinaus, immer etwas radikaler zu sein als der ‘konventionelle’ Konservativismus und die Verfassungswirklichkeit in diese Richtung zu drücken. …
Nun existieren im politischen System der Bundesrepublik zahlreiche Variationen von Nicht- und Antidemokraten, die das ohne weiteres zugeben und gar nicht erst einen falschen Schein erwecken wollen. Nicht so der ‘Zwangsdemokrat’. Es ist ein fester Bestandteil seines Programms, Vorstöße, mit deren Hilfe die Demokratie eingeengt werden soll, als ihrem Wohle dienend zu erklären. Daß sie in Gefahr sei, davon redet niemand so häufig wie er. Und natürlich kommt diese Gefahr immer von der gegnerischen Partei, die es leider nun einmal gibt. …
Alle Kriterien, die auf den Zwangsdemokraten zutreffen, individualisieren sich unverkennbar in der Person von Franz Josef Strauß …”
aus: Ralph Giordano: Die Zweite Schuld, oder von der Last, Deutscher zu sein. Hamburg 1987, S.249-253.
abb.: Klaus Staeck: Juso beißt wehrloses Kind, 1972, Edition Staeck, im Internet.
03/92