Konservativismus (deutscher)
“Konservative Positionen bleiben im Ganzen zeitgebunden und oft auch sektoral beschränkt. … Der alte deutsche Konservativismus war resignativ und relativ klar definiert. … In Deutschland haben diese Bemühungen insgesamt den Prozeß der gesamtgesellschaftlichen Modernisierung und des Ausbaus des Sozialstaats nicht aufzuhalten vermocht. Aber sie haben dessen Kosten hochgetrieben und insbesondere Privilegien, Nischen und Enklaven geschaffen, dank derer nicht nur große Teile der vormodernen Eliten relativ angenehm überleben konnten, sondern auch die mehr Besitzenden die Ansprüche der weniger Besitzenden durchweg mit überproportionalem Erfolg abwehren konnten. …
Der Sonderweg der Konservativen in Deutschland war … markiert durch deren enge Bindung an großagrarische Interessen, die konfessionelle Spaltung …, das Fehlen eines westlichen Liberal-Konservativismus, die Schwäche reformkonservativer Bestrebungen und die Abwehr des Parlamentarismus. …
Der erfolgreiche Konservativismus [Bismarcks] von oben richtete sich auch gegen die konservativen Parteien und Gruppen. … Seit der Reichsgründung hat sich der historische Ort des deutschen Konservativismus zweimal entscheidend verschoben. … An die Stelle der Geschichte als ideologischer Leitwissenschaft traten Biologie und Sozialdarwinismus.
… Eine zweite grundlegende Neuorientierung konservativen Denkens und konservativer Politik wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs notwendig. … Politischer Konservativismus war seitdem auch hier kompatibel mit Wirtschaftsliberalismus. …
[Heute] finden wir vermehrt konservative Elemente und Versatzstücke in willkürlicher Auswahl und Kombination in Programm und Politik aller Parteien und Interessengruppen und weit darüber hinaus in vielen Äußerungen kollektiven Lebensgefüges, im Kulturbetrieb, in der Mode und in diversen Nostalgiewellen. … Wie in anderen hochentwickelten, hochdifferenzierten und hochorganisierten Gesellschaften stellt auch bei uns heute diese Tendenz zur Einengung der Handlungsspielräume, zur Unbeweglichkeit und zum bloßen Krisenmanagement zugunsten der Systemerhaltung einen beherrschenden Zug der gesamten Politik dar. Struktureller Konservativismus ist weitgehend zu der Basis geworden, von der aus politisches Handeln noch möglich ist. …”
Hans-Jürgen Puhle: Vom Progamm zum Versatzstück. Zehn Thesen zum deutschen Konservatismus. Kursbuch 73, 1983
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